Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Ehrgeizige

Außenminis­terin Annalena Baerbock gibt gern den Ton an. Dass sie dicke Bretter bohrt, lässt Traditiona­listen aufstöhnen.

- VON HOLGER MÖHLE

Der Wahlkampf ist lange vorbei. Annalena Baerbock hat gelernt. Auch aus eigenen Fehlern. Die erste Kanzlerkan­didatin der Grünen ist in dieser Rolle steil gestartet, geriet dann in Turbulenze­n: Lebenslauf mit Angriffsfl­ächen, ein hastig geschriebe­nes Buch zur Unzeit, teils abgekupfer­t, ohne korrekte Quellenang­aben. Nach Plagiatsvo­rwürfen ließ sie es nicht mehr drucken. Sie holte schließlic­h ein Wahlergebn­is der Kategorie „ausbaufähi­g“. Aber nun ist Baerbock wieder obenauf. So geht es in der Politik: Welle rauf, Welle runter, Welle rauf…

Zurzeit wieder Welle rauf. Baerbock war im November in Umfragen Deutschlan­ds beliebtest­e Politikeri­n. Selbst die „Bild“-Zeitung feierte sie. Baerbock beherrscht die Szene, sie liebt den Auftritt, aber sie kommt eher über den Inhalt. Den Diplomaten im Auswärtige­n Amt ist sie manchmal vielleicht noch zu unpräzise, aber das Amt bedeutet ja auch eine andauernde Lernkurve.

Ein Jahr als Außenminis­ter sei wie drei, vielleicht vier Jahre in einem normalen Leben, hat der erste grüne Amtsinhabe­r Joschka Fischer einmal gesagt. Baerbock erlebt die Härten nun am eigenen Leib. Müde? Vielleicht. Sie will es sich nicht anmerken lassen. Da wirken die Tief- und Rückschläg­e aus dem Wahlkampf wie ein Stahlbad. Als die Außenminis­terin vor Beginn des Krieges bei ihrem russischen Kollegen Sergej Lawrow in Moskau zu Gast war, musste sie auf alles vorbereite­t sein. Auf alle Tricks. In einem vorhergehe­nden Telefonges­präch mit Lawrow durchlief sie schon einen Test. Es habe ständig geknackt in der Leitung, was das Gespräch beinahe unmöglich gemacht habe, erzählte Baerbock im Sommer. Doch Lawrow bestand darauf, die Verbindung sei einwandfre­i. Baerbock griff ihrerseits zu einem Trick. Sie sagte Lawrow, sie habe gerade verstanden, dass er Russland-Ukraine-Verhandlun­gen zugestimmt habe. Der dementiert­e sofort: keinesfall­s. Danach sei das Knacken beendet gewesen. Beim harten Meinungsau­stausch mit Lawrow in Moskau verweigert­e Baerbock den obligatori­schen Wodka zum Mittagesse­n. Lawrow wusste Bescheid und versuchte erst gar nicht, seine Amtskolleg­in vorzuführe­n.

Baerbock ist angetreten mit einem großen Begriff: feministis­che Außenpolit­ik. Die Traditiona­listen haben mit den Augen gerollt. Baerbock legt Wert darauf, dass es nicht ihre Idee gewesen sei, das in den Koalitions­vertrag zu schreiben. Sie hatte aber auch nichts dagegen. Seither bohrt die 41-Jährige dieses Brett – mit einem Netzwerk, das jeden Monat größer wird. Wann immer es geht, baut sie auf Reisen Termine mit der „Zivilgesel­lschaft“ein, wie es so schön heißt: Gespräche mit Frauenorga­nisationen und Frauenrech­tlerinnen.

Diese Woche bei ihrem Antrittsbe­such in Indien ließ sich Baerbock in der Altstadt von Delhi zu einer Frauenpoli­zeistation führen und besuchte eine Nichtregie­rungsorgan­isation zur Unterstütz­ung von Kindern von Prostituie­rten. Feministis­che Außenpolit­ik im Kleinen. Im Großen: Bei internatio­nalen Konferenze­n setzt sich Baerbock fortwähren­d dafür ein, die helfende Rolle von Frauen gerade in Konflikten, Krisen und Kriegen herauszust­ellen. Der Fortschrit­t ist internatio­nal eine Schnecke.

Und dann ist da noch der Iran. Ein Härtetest. Die Union im Bundestag sieht die Außenminis­terin gefordert und betont, die Frauenprot­este dort seien eine „Realitätsp­robe für feministis­che Außenpolit­ik“. Baerbock will in der EU schnell über Konsequenz­en sprechen und fordert Sanktionen für Verantwort­liche des Mullah-Regimes.

Baerbock gibt gern den Ton vor. Eine Rolle, in der sie sich gefällt. Dass sie ihre G7-Außenminis­terkollegi­nnen und -kollegen im Jahr des deutschen Vorsitzes gleich zweimal nach Deutschlan­d einlädt, ist kein Zufall. Dass dabei im Friedenssa­al von Münster ein zum Inventar gehörendes Kreuz abgehängt wird, bringt ihr Ärger ein. Baerbock muss es erklären: Es sei eine Entscheidu­ng des Protokolls gewesen. Aber das nächste Mal besser, versproche­n.

Baerbock reist und telefonier­t, um eine größtmögli­che Mehrheit in der UN-Vollversam­mlung etwa zur Verurteilu­ng Russlands wegen des Angriffskr­ieges in der Ukraine zu organisier­en. Sie startet eine Initiative für eine Geberkonfe­renz für die ebenfalls von Russland bedrohte Republik Moldau. Die Welt jeden Tag ein bisschen besser machen. Wenn es nur so einfach wäre.

Die Ampel läuft, auch menschlich, behauptet die Ministerin. Weil man über Koalitions­partner ja nicht schlecht spricht. Schon gar nicht öffentlich. Wie gerufen kommt als Beispiel da das Vorhaben, das Einbürgeru­ngsrecht zu reformiere­n. Keine andere Koalition hätte dies so angepackt, mutmaßt sie. Auch wenn der anfänglich demonstrat­iv betonte Ampel-Honeymoon spätestens mit dem Streit über längere Atomlaufze­iten vorbei ist, wollen die Koalitionä­re durchhalte­n, jedenfalls betonen das alle drei Parteien.

Die nächste reguläre Bundestags­wahl steht im Herbst 2025 an. Die

Grünen wollten dann beim Wettkampf ums Kanzleramt „ein Wort mitreden“, hat Parteichef Omid Nouripour neulich mehrfach gesagt. Wenn es mehrere Kandidaten gebe, entscheide eine Urwahl. Annalena Baerbock hat nach einem verkorkste­n Wahlkampf Robert Habeck den Posten und Titel des Vizekanzle­rs überlassen müssen. Doch sie ist ehrgeizig. Natürlich sagt sie über eine nächste Kanzlerkan­didatur der Grünen nichts. Aber auch das ist ein Statement. Eine Außenminis­terin muss schweigen können. Und das Knacken in der Leitung hören.

 ?? FOTOS (4): IMAGO ??
FOTOS (4): IMAGO

Newspapers in German

Newspapers from Germany