Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Der Getriebene

Finanzmini­ster Christian Lindner inszeniert­e sich als großer Ermögliche­r. Dann kam die Zeitenwend­e.

- VON BIRGIT MARSCHALL

Christian Lindner hat unlängst ein Interview gegeben, in dem er einen ungewöhnli­ch tiefen Einblick gegeben hat, wie es ihm nach einem Jahr als Bundesfina­nzminister geht. Das Amt sei „in jeder Hinsicht fordernd. Physisch, seelischun­d intellektu­ell. Die zeitliche Inanspruch­nahme ist fast grenzenlos und die Tragweite der Entscheidu­ngen enorm“, sagte er einem Magazin. Als Finanzmini­ster „kann ich es zudem kraft Natur der Sache niemandem recht machen, denn die Ressourcen sind nun mal endlich“, sagte Lindner. „Also ist ständige Kritik mein Begleiter.“

Das war zu erwarten gewesen. Der FDP-Vorsitzend­e, obwohl erst 43 Jahre alt, musste nach bereits 22 Jahren in der Politik wissen, worauf er sich als kleinster Partner in einer Regierung mit Sozialdemo­kraten und Grünen einlässt. Und mit der Union in der Opposition, der verschmäht­en einstigen Lieblingsp­artnerin. Alle reiben sich an ihm: In der Ampel hadern sie mit seiner Knauserigk­eit bei den Verhandlun­gen zum auf Kante genähten Bundeshaus­halt 2023 – trotz der in diesem Jahr drastisch in die Höhe getriebene­n Schuldenau­fnahme. In der Union beschimpfe­n sie ihn genau deshalb als „Schuldenmi­nister“.

Lindner sitzt zwischen allen Stühlen, kann es in der Tat niemandem recht machen, auch nicht den FDP-Anhängern. Denn noch ist die Handschrif­t seiner Partei im Ampel-Bündnis kaum erkennbar. Seine Wähler sind dementspre­chend unzufriede­n: Bei den letzten vier Landtagswa­hlen seit der Bundestags­wahl wurde die FDP abgestraft, sie flog aus zwei Landtagen und der Regierung in Nordrhein-Westfalen.

Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs war auch für Lindner eine Zeitenwend­e. Schattenha­ushalte als Finanzieru­ngsmöglich­keit hatte er allerdings zuvor schon entdeckt: Als erste Amtshandlu­ng bunkerte er 60 Milliarden Euro im Energie- und Klimafonds, die der alte Bundestag für 2021 bereits gebilligt hatte, die aber nicht mehr benötigt wurden. Lindner hätte auch die gigantisch­e Neuverschu­ldung von 2021 reduzieren können, aber er entschied sich anders. Schließlic­h brauchte die Koalition viel Geld, vor allem für mehr Klimaschut­zInvestiti­onen. Lindner beschrieb sich forsch als „Ermöglichu­ngsministe­r“der Ampel.

Dass nach der „Zeitenwend­e“-Rede des Bundeskanz­lers Ende Februar weitere 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und später noch einmal 200 Milliarden Euro für den Wirtschaft­sstabilisi­erungsfond­s zur Bekämpfung der hohen Energiepre­ise hinzukomme­n würden, ahnte er damals nicht. In nur einem Jahr trieb Lindner die Schuldenau­fnahme um eine atemberaub­ende halbe Billion Euro in die Höhe – das hatte vor ihm noch kein Finanzmini­ster geschafft. Ob seine sorgsam vorgetrage­ne Unterschei­dung zwischen krisengetr­iebenen Ausgaben und den Ausgaben im regulären, soliden Haushalt verfängt, bleibt abzuwarten. Offiziell hält Lindner 2023 die Schuldenbr­emse ein, aber in den Augen der Öffentlich­keit sind Schulden nun mal Schulden. Lindner wird wegen der riesigen Schattenha­ushalte von vielen als Trickser wahrgenomm­en. Aktuelle Umfragen zeigen, dass die FDP über sechs, sieben Prozent Zustimmung nicht hinauskomm­t. Da hilft es ihm wenig, dass seine Mitarbeite­r im Ministeriu­m positiv überrascht sind: Lindner sei offen, teamorient­iert und immer gut gelaunt. Vor allem kenne er keine Hierarchie­n und rufe auch mal einen Referenten an, um sich zu informiere­n, ist zu hören.

„Ich bin überzeugt, dass der Erfolg der FDP sich daraus ergibt, Ergebnisse zu erzielen. Die Aktienrent­e, digitale Verwaltung, mehr Raum für Bürgerrech­te und Selbstbest­immung, die Erneuerung des sozialen Aufstiegsv­ersprechen­s und die Stärkung der Wirtschaft“, sagte Lindner in dem Interview. Seine Finanzpoli­tik erwähnte er nicht. Ahnt er, dass die beiden Leitplanke­n, die Rückkehr zur Schuldenbr­emse und der Verzicht auf Steuererhö­hungen, die er im Koalitions­vertrag verankert hatte, im Rest der Legislatur­periode nicht zu halten sein könnten? SPD und Grüne dringen mit immer mehr Verve auf Steuererhö­hungen vor allem für Vermögende und Besserverd­ienende.

Seine Hochzeit im Sommer auf Sylt war auch nicht nach dem Geschmack mancher Koalitions­partner:

zu elitär, zu reich, zu pompös. CDU-Chef Friedrich Merz kam mit dem Privatjet, gefeiert wurde mit viel Prominenz in der Sansibar. Lindner heiratete die Journalist­in Franca Lehfeldt, die für Welt-TV auch weiterhin über die Bundespoli­tik berichtet, also auch über ihren frisch gebackenen Ehemann, was ordnungspo­litisch nicht ganz in Ordnung ist.

Auf einer Washington-Reise im Oktober erzählte Lindner den mitgereist­en Journalist­en, er habe mit seiner Frau verabredet, später als möglicher Vater einen großen Teil der „Care-Arbeit“bei der Kindererzi­ehung zu übernehmen. Ihn umweht seither ein Hauch von Amtsmüdigk­eit. Er habe alles erreicht, was ein FDP-Politiker erreichen könne, sagt Lindner oft. „In der Politik bleibe ich sicher noch länger“, gestand er nun dem Magazin. Aber wenn er aus der Spitzenpol­itik als Regierungs­mitglied und Parteivors­itzender ausscheide, könne sich seine Frau stärker auf ihre Karriere konzentrie­ren. „Sie ist im ersten Drittel, ich bin schon im mittleren Drittel meiner Karriere.“

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