Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Jubeln am Rande der Stadt
Katars Gastarbeiter halten das Land am Laufen. Die WM können die meisten allerdings nur an einem besonderen Ort verfolgen.
DOHA (dpa) In diesem Stadion wird nicht ein einziges WM-Spiel ausgetragen und trotzdem sind die Tribünen jeden Abend voll. Wer rechtzeitig gekommen ist, hat noch einen Platz gefunden. Andere hocken unten auf dem vergilbten Rasen, den Blick gebannt auf die Großbildleinwand gerichtet. Brasilien spielt an diesem Abend, und wann immer sich die Seleção dem Tor nähert, johlt und raunt die Menge.
Es sind vor allem junge Männer aus Bangladesch, Nepal und anderen ärmeren Ländern Asiens, die sich auf den Weg in dieses Stadion gemacht haben. Sonst kämpfen im „Asian Town Cricket Stadium“Teams einer anderen Sportart um Punkte. Doch für die WM haben die Gastgeber hier eine von mehreren Fanzonen errichtet, die sich von den anderen Event-Orten des Turniers in vielem unterscheidet.
Die „Fan-Zone Industrial Area“, wie sie offiziell heißt, liegt am Rand der Hauptstadt Doha, weit weg von allem schillernden Glitzer und polierten Glanz dieses reichen Emirats. Katarer verirren sich nur selten in diese Gegend, WM-Gäste aus dem Ausland noch seltener. Die Sammelunterkünfte für die ausländischen Arbeiter sind in wenigen Gehminuten zu erreichen. Wer in die „Industrial Area“fährt, betritt eine Parallelwelt der Migranten.
Katar und seine Gastarbeiter, das ist eines der großen Themen dieser WM. Diejenigen von ihnen, die mit langen Arbeitszeiten und bei großer Hitze auf dem Bau schuften, haben den Preis dafür gezahlt, dass die Fifa 2010 sein wichtigstes Turnier an ein Land vergab, in dem die Stadien und die Infrastruktur dafür größtenteils erst gebaut werden mussten.
Die britische Zeitung „The Guardian“recherchierte 2021 die Zahl von mehr als 6500 Gastarbeitern alleine aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka, die seit der WM-Vergabe in Katar ums Leben kamen. Die Fifa sprach von drei Toten auf den Stadion- und anderen offiziellen WM-Baustellen, der Chef des WM-Organisationskomitees zuletzt von 414 in den Jahren 2014 bis 2020. Allein dass vor dem wichtigsten Sportereignis der Welt niemand sagen kann oder will, wie viele Menschen genau dafür ihr Leben ließen, sagt viel über diese WM aus.
In Katar wird schnell klar: Den klassischen Gastarbeiter gibt es hier nicht. Dafür sind es zu viele. Sie halten dieses Land am Laufen, weil sie fast alle Tätigkeiten verrichten, vor allem die schlecht bezahlten: der Arbeiter auf der Baustelle, die Reinigungskraft auf der Toilette, die Kassiererin im Supermarkt, der Fahrer im Bus oder Taxi. Es gibt aber auch ausländische Polizisten, Ärzte, Restaurant-Besitzer. Ohne Migranten wäre das Emirat verloren. Rund drei Millionen Menschen leben in dem Golfstaat – nur fast jeder Zehnte hat einen katarischen Pass. Die Menschen, die man hier am seltensten trifft, sind die Kataris.
Rahman, ein junger Mann aus Bangladesch, der eigentlich anders heißt, lebt seit sieben Jahren in Katar. Er trägt einen Brasilien-Schal und tanzt einige Schritte, als die Seleção ein Tor erzielt. Rahman arbeitet als Taxifahrer, was für ihn heißt: sechs Tage die Woche am Steuer sitzen, bis zu zwölf Stunden am Tag, manchmal weniger. Er arbeite auf eigene Rechnung und mache rund 5000 katarische Riyal im Monat (etwa 1300 Euro), sagt er. Andere verdienen aber auch noch mit. Die Firma, die die Taxilizenz besitzt, lässt sich bezahlen. Und oft auch einheimische Sponsoren, ohne die kein Ausländer in Katar bleiben darf.
Zu den Ambivalenzen in Katar gehört: Das Land am Golf hat in den vergangenen Jahren Reformen beschlossen, die die Lage der Arbeitsmigranten – zumindest auf dem Papier – verbessert haben. Sie können jetzt etwa den Job wechseln oder das Land verlassen, ohne dass der Sponsor seine Zustimmung geben muss.
Rahman erzählt, er könne in die Heimat reisen, wann und so lange er wolle. Doch die Realität im täglichen Leben ist häufig immer noch eine andere. Menschenrechtler weisen unermüdlich darauf hin, dass die Gesetzänderungen zwar Schritte in die richtige Richtung seien, aber bei Weitem nicht ausreichten. „Die Reformen
haben sich beim Schutz der Arbeitnehmerrechte als völlig unzureichend erwiesen und werden nur unzureichend durchgesetzt“, bemängelt etwa Human Rights Watch.
Dieses „Aber“zieht sich durch alle Themen. Ja, die WM und die dadurch auf das Land gerichteten Scheinwerfer haben die Arbeitnehmerrechte in Katar gestärkt. Aber den Toten auf den Stadionbaustellen hilft das nicht mehr, und die Frage ist auch: Was passiert, wenn diese internationale Aufmerksamkeit nicht mehr da ist? „Ich glaube nicht, dass diese Gesetze nach der WM wieder zurückgenommen werden“, sagte der Golfstaaten-Experte Nicolas Fromm von der HelmutSchmidt-Universität in Hamburg. „Aber ich glaube nicht, dass der Effekt dadurch so groß ist, dass es das gesamte Problem Katars im Umgang mit Arbeitsmigranten lösen wird. Denn wenn Katar auf Jahre oder Jahrzehnte ein sehr gefragter Gaslieferant bleiben wird, dann glaube ich nicht, dass im Westen starke Versuche unternommen werden, diesen Handelspartner zu diskreditieren.“
Rahman reist demnächst nach Hause, um zu heiraten. Er wird zurückkommen, weil er hier weiter Geld verdienen will. Für immer bleiben aber möchte er nicht. „Ich habe einen Traum“, sagt er. Und der heißt Europa, am liebsten Portugal: „Die vergeben Staatsbürgerschaften.“Eine katarische wird er nie bekommen.