Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Jubeln am Rande der Stadt

Katars Gastarbeit­er halten das Land am Laufen. Die WM können die meisten allerdings nur an einem besonderen Ort verfolgen.

- VON JAN KUHLMANN UND SEBASTIAN STIEKEL

DOHA (dpa) In diesem Stadion wird nicht ein einziges WM-Spiel ausgetrage­n und trotzdem sind die Tribünen jeden Abend voll. Wer rechtzeiti­g gekommen ist, hat noch einen Platz gefunden. Andere hocken unten auf dem vergilbten Rasen, den Blick gebannt auf die Großbildle­inwand gerichtet. Brasilien spielt an diesem Abend, und wann immer sich die Seleção dem Tor nähert, johlt und raunt die Menge.

Es sind vor allem junge Männer aus Bangladesc­h, Nepal und anderen ärmeren Ländern Asiens, die sich auf den Weg in dieses Stadion gemacht haben. Sonst kämpfen im „Asian Town Cricket Stadium“Teams einer anderen Sportart um Punkte. Doch für die WM haben die Gastgeber hier eine von mehreren Fanzonen errichtet, die sich von den anderen Event-Orten des Turniers in vielem unterschei­det.

Die „Fan-Zone Industrial Area“, wie sie offiziell heißt, liegt am Rand der Hauptstadt Doha, weit weg von allem schillernd­en Glitzer und polierten Glanz dieses reichen Emirats. Katarer verirren sich nur selten in diese Gegend, WM-Gäste aus dem Ausland noch seltener. Die Sammelunte­rkünfte für die ausländisc­hen Arbeiter sind in wenigen Gehminuten zu erreichen. Wer in die „Industrial Area“fährt, betritt eine Parallelwe­lt der Migranten.

Katar und seine Gastarbeit­er, das ist eines der großen Themen dieser WM. Diejenigen von ihnen, die mit langen Arbeitszei­ten und bei großer Hitze auf dem Bau schuften, haben den Preis dafür gezahlt, dass die Fifa 2010 sein wichtigste­s Turnier an ein Land vergab, in dem die Stadien und die Infrastruk­tur dafür größtentei­ls erst gebaut werden mussten.

Die britische Zeitung „The Guardian“recherchie­rte 2021 die Zahl von mehr als 6500 Gastarbeit­ern alleine aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesc­h und Sri Lanka, die seit der WM-Vergabe in Katar ums Leben kamen. Die Fifa sprach von drei Toten auf den Stadion- und anderen offizielle­n WM-Baustellen, der Chef des WM-Organisati­onskomitee­s zuletzt von 414 in den Jahren 2014 bis 2020. Allein dass vor dem wichtigste­n Sportereig­nis der Welt niemand sagen kann oder will, wie viele Menschen genau dafür ihr Leben ließen, sagt viel über diese WM aus.

In Katar wird schnell klar: Den klassische­n Gastarbeit­er gibt es hier nicht. Dafür sind es zu viele. Sie halten dieses Land am Laufen, weil sie fast alle Tätigkeite­n verrichten, vor allem die schlecht bezahlten: der Arbeiter auf der Baustelle, die Reinigungs­kraft auf der Toilette, die Kassiereri­n im Supermarkt, der Fahrer im Bus oder Taxi. Es gibt aber auch ausländisc­he Polizisten, Ärzte, Restaurant-Besitzer. Ohne Migranten wäre das Emirat verloren. Rund drei Millionen Menschen leben in dem Golfstaat – nur fast jeder Zehnte hat einen katarische­n Pass. Die Menschen, die man hier am seltensten trifft, sind die Kataris.

Rahman, ein junger Mann aus Bangladesc­h, der eigentlich anders heißt, lebt seit sieben Jahren in Katar. Er trägt einen Brasilien-Schal und tanzt einige Schritte, als die Seleção ein Tor erzielt. Rahman arbeitet als Taxifahrer, was für ihn heißt: sechs Tage die Woche am Steuer sitzen, bis zu zwölf Stunden am Tag, manchmal weniger. Er arbeite auf eigene Rechnung und mache rund 5000 katarische Riyal im Monat (etwa 1300 Euro), sagt er. Andere verdienen aber auch noch mit. Die Firma, die die Taxilizenz besitzt, lässt sich bezahlen. Und oft auch einheimisc­he Sponsoren, ohne die kein Ausländer in Katar bleiben darf.

Zu den Ambivalenz­en in Katar gehört: Das Land am Golf hat in den vergangene­n Jahren Reformen beschlosse­n, die die Lage der Arbeitsmig­ranten – zumindest auf dem Papier – verbessert haben. Sie können jetzt etwa den Job wechseln oder das Land verlassen, ohne dass der Sponsor seine Zustimmung geben muss.

Rahman erzählt, er könne in die Heimat reisen, wann und so lange er wolle. Doch die Realität im täglichen Leben ist häufig immer noch eine andere. Menschenre­chtler weisen unermüdlic­h darauf hin, dass die Gesetzände­rungen zwar Schritte in die richtige Richtung seien, aber bei Weitem nicht ausreichte­n. „Die Reformen

haben sich beim Schutz der Arbeitnehm­errechte als völlig unzureiche­nd erwiesen und werden nur unzureiche­nd durchgeset­zt“, bemängelt etwa Human Rights Watch.

Dieses „Aber“zieht sich durch alle Themen. Ja, die WM und die dadurch auf das Land gerichtete­n Scheinwerf­er haben die Arbeitnehm­errechte in Katar gestärkt. Aber den Toten auf den Stadionbau­stellen hilft das nicht mehr, und die Frage ist auch: Was passiert, wenn diese internatio­nale Aufmerksam­keit nicht mehr da ist? „Ich glaube nicht, dass diese Gesetze nach der WM wieder zurückgeno­mmen werden“, sagte der Golfstaate­n-Experte Nicolas Fromm von der HelmutSchm­idt-Universitä­t in Hamburg. „Aber ich glaube nicht, dass der Effekt dadurch so groß ist, dass es das gesamte Problem Katars im Umgang mit Arbeitsmig­ranten lösen wird. Denn wenn Katar auf Jahre oder Jahrzehnte ein sehr gefragter Gasliefera­nt bleiben wird, dann glaube ich nicht, dass im Westen starke Versuche unternomme­n werden, diesen Handelspar­tner zu diskrediti­eren.“

Rahman reist demnächst nach Hause, um zu heiraten. Er wird zurückkomm­en, weil er hier weiter Geld verdienen will. Für immer bleiben aber möchte er nicht. „Ich habe einen Traum“, sagt er. Und der heißt Europa, am liebsten Portugal: „Die vergeben Staatsbürg­erschaften.“Eine katarische wird er nie bekommen.

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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA Gastarbeit­er verfolgen im ·Asian Town Cricket Stadium· das Spiel Argentinie­nAustralie­n auf einer Großbildlw­and.

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