Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
„Herr Klingbeil, sind Sie der Hansi Flick der SPD?“
Der Gnadentaler Unternehmer-Tisch bringt SPD-Chef Lars Klingbeil mit Neusser Unternehmern ins Gespräch: Ein Besuch in der „Höhle des Löwen“?
NEUSS Das war ein Empfang mit Klartext: „Wir sind alle überzeugt von der Sozialen Marktwirtschaft und überzeugt, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn die Starken die Schwachen stärken und wenn man füreinander einsteht. Aber wir sind genauso überzeugt, dass Planwirtschaft nicht erfolgreich ist. Und eine Umverteil-Gesellschaft ist nicht sozial, sondern im Gegenteil: Sie fördert das Schmarotzertum und das Umverteilen lässt erst recht die Schwachen zurück.“Jutta Zülow, Gastgeberin beim Gnadentaler Unternehmer-Tisch (GUT) hatte am Montagabend den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil (44) zum Gespräch mit Ulrich Deppendorf, langjähriger Studioleiter und Chefredakteur Fernsehen im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, zu Gast. Für den Sozialdemokraten könnte es wie ein fröhliches „Herzlich willkommen in der Höhle des Löwen“geklungen haben. Im Saal von Gut Gnadental sprach er vor und mit Vertretern vor allem aus Wirtschaft und Politik im Rhein-Kreis und aus Düsseldorf.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Start der Ampel-Koalition in Berlin, verwies Deppendorf auf die derzeit schlechten Umfrageergebnisse. Die SPD käme danach nur noch auf rund 18 Prozent der Wählerstimmen, bei der Bundestagwahl waren es noch 25,7 Prozent. „Sind Sie der Hansi Flick der SPD, weil der Mittelstürmer Olaf Scholz nicht so ankommt?“, Deppendorfs Frage nutzte der SPD-Chef zum ersten Konter: 18 Prozent schockierten ihn wenig. „Nicht gut, muss man nicht schönreden, aber wir waren auch schon bei elf Prozent.“Als er – damals noch
SPD-Generalsekretär – Olaf Scholz als Kandidaten präsentiert und den Anspruch formuliert habe, dass seine Partei den nächsten Kanzler stellen wolle, hätten Journalisten gefragt, ob sie einen Arzt rufen sollen. Das Wahlergebnis habe jedoch gezeigt, was möglich sei. „Entscheidender als Umfragen ist, dass die Menschen am Ende sagen: Scholz hat uns gut durch die Krise geführt.“
Mit Deppendorf im Zwiegespräch ging es im Parforceritt durch die aktuelle Innen- und Außenpolitik. Verliert die Ampel durch zu viel Streit an Vertrauen? Nein, sagt Klingbeil und schiebt ein Plädoyer für den konstruktiven Streit nach. Nichts anderes würden sicher auch die Unternehmer im Saal von ihren Leuten erwarten in einer Zeit in der der Krieg Putins gegen die Ukraine so vieles auf den Kopf gestellt habe. Eine kleine Einschränkung schob Klingbeil dann aber doch noch hinterher: Wenn sich zwei Minister – Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) – wochenlang über ein paar Monate längere Laufzeiten für Atomkraftwerke
streiten, dann sei das „nicht okay“. Generell mahnte der SPD-Chef, in der öffentlichen und medialen Diskussion eine „Übermoralisierung“zu vermeiden. Es sei etwa geradezu absurd, wenn darüber diskutiert werde, ob der deutsche Bundeskanzler in der aktuellen Lage noch zu Gesprächen nach China reisen dürfe. „Wir verzwergen unser Land“, warnte Klingbeil. Es sei ein Irrglaube, dass Deutschland von heute auf morgen auf Kontakte zu China verzichten könne. Richtig sei, dass sich Fehler, die zu einer Abhängigkeit von russischem Gas geführt hätten, nicht wiederholen sollten. Für Rohstoffe wie etwa Lithium gebe es auch andere Lieferanten als China, im konkreten Fall zum Beispiel Kanada – „allerdings zu höheren Preisen, weil dort natürlich die Produktionsstandards stimmen.“Aus „sicherheitsrelevanten Bereichen“wie der digitalen Infrastruktur oder bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz in Deutschland müsse China draußen bleiben.
Dennoch sei es richtig, weiter mit China in Kontakt zu bleiben, auch wenn manche Experten davor warnten, dass China in fünf, acht oder zehn Jahren Taiwan angreifen könnte. „Dann haben wir aber eben auch noch diese Zeit, um China zu überzeugen, nicht anzugreifen.“Wenn Deutschland nach mehr Unabhängigkeit von China und Russland strebe, brauche es neue Freunde und Verbündete in aller Welt. Das Problem sei: Wenn Deutschland in Asien, Afrika oder Lateinamerika anklopfe, laute die Antwort oft: Ihr seid zu spät zur Party. „Russland und China haben sich dort längst gekümmert.“Umso wichtiger sei es, sich bietende Chancen zu nutzen, um neue Energieund Handelskooperationen abzuschließen.
Als weitere Antwort mit Blick auf Russland und China, aber auch die USA, die mit ihrer Wirtschaftspolitik eine Abwanderung deutscher Industrie fördere, setzt Klingbeil auf eine „aktive Industriepolitik“in Deutschland und Europa. Dazu gehöre neben einer Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, einer Neuregelung für die gezielte Zuwanderung von Fachkräften und staatlichen Investitionen in Zukunftsbranchen auch ein Aktivieren privater Investitionen. „Die Investoren stehen bereit, weltweit“, so Klingbeil. Ein Problem seien Defizite in der europäischen Wirtschaftspolitik: „Damit diese Investoren aktiv werden, brauchen wir einen Kapitalmarkt in Europa, nicht 27 verschiedene.“Auch außenpolitisch müsse Europa seine politische Kraft wiederfinden: Mehrheitsentscheidungen
statt Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen könnten dazu beitragen, ebenso wie eine auch weiterhin geschlossene Haltung gegenüber Russland in der Ukraine-Krise. Russlands Präsident Wladimir Putin sei getrieben von Großmacht-Fantasien.
Bei allem Verständnis für den Wunsch nach Verhandlungen müsse die internationale Gemeinschaft „höllisch aufpassen“welche Signale sie an Putin sende. Der Krieg lasse sich nicht am Kartentisch in Berlin, Brüssel oder Washington beenden, sondern nur mit einer durch Unterstützung gestärkte Ukraine. Von den Gästen auf Gut Gnadental gab es dafür Applaus, wie an anderen Stellen auch.
Einzig beim Thema Bürgergeld war die Skepsis im Saal doch deutlich spür- und hörbar. Klingbeil warb dafür unter anderem mit einem Systemwechsel hin zu mehr und aussichtsreicherer Qualifizierung von Arbeitssuchenden und Schulabgängern ohne Abschluss. Dass die Union versucht habe, mit dem Missbrauch von Sozialleistungen Stimmung gegen das Bürgergeld zu machen, sei unanständig.
Nur drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher, so der SPD-Chef, seien in der Vergangenheit mit Sanktionen belegt worden, 97 Prozent hätten sich völlig korrekt verhalten. Die drei Prozent dürften nicht herangezogen werden, um das Bild der Hilfeempfänger insgesamt zu definieren. Drei Prozent? Raunen und Gemurmel im Saal. Viele hielten diese Zahl wohl für zu niedrig.
Eher Zustimmung dagegen beim Thema Rente. Sollte es die erst mit 72 Jahren geben. Klares Nein von Klingbeil: Dafür seien viele Jobs einfach zu hart und zu belastend. Wer freiwillig länger arbeiten wolle, solle allerdings die Möglichkeit bekommen. Zunächst gelte es aber dafür zu sorgen, dass Berufstätige mit guten Arbeitsplätzen das aktuell geltende Rentenalter überhaupt erreichen. Applaus für den SPD-Chef, der sich in der „Höhle des Löwen“dann doch ziemlich wohl gefühlt haben dürfte.