Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

„Herr Klingbeil, sind Sie der Hansi Flick der SPD?“

- VON FRANK KIRSCHSTEI­N

Der Gnadentale­r Unternehme­r-Tisch bringt SPD-Chef Lars Klingbeil mit Neusser Unternehme­rn ins Gespräch: Ein Besuch in der „Höhle des Löwen“?

NEUSS Das war ein Empfang mit Klartext: „Wir sind alle überzeugt von der Sozialen Marktwirts­chaft und überzeugt, dass eine Gesellscha­ft nur funktionie­rt, wenn die Starken die Schwachen stärken und wenn man füreinande­r einsteht. Aber wir sind genauso überzeugt, dass Planwirtsc­haft nicht erfolgreic­h ist. Und eine Umverteil-Gesellscha­ft ist nicht sozial, sondern im Gegenteil: Sie fördert das Schmarotze­rtum und das Umverteile­n lässt erst recht die Schwachen zurück.“Jutta Zülow, Gastgeberi­n beim Gnadentale­r Unternehme­r-Tisch (GUT) hatte am Montagaben­d den SPD-Vorsitzend­en Lars Klingbeil (44) zum Gespräch mit Ulrich Deppendorf, langjährig­er Studioleit­er und Chefredakt­eur Fernsehen im ARD-Hauptstadt­studio in Berlin, zu Gast. Für den Sozialdemo­kraten könnte es wie ein fröhliches „Herzlich willkommen in der Höhle des Löwen“geklungen haben. Im Saal von Gut Gnadental sprach er vor und mit Vertretern vor allem aus Wirtschaft und Politik im Rhein-Kreis und aus Düsseldorf.

Fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Start der Ampel-Koalition in Berlin, verwies Deppendorf auf die derzeit schlechten Umfrageerg­ebnisse. Die SPD käme danach nur noch auf rund 18 Prozent der Wählerstim­men, bei der Bundestagw­ahl waren es noch 25,7 Prozent. „Sind Sie der Hansi Flick der SPD, weil der Mittelstür­mer Olaf Scholz nicht so ankommt?“, Deppendorf­s Frage nutzte der SPD-Chef zum ersten Konter: 18 Prozent schockiert­en ihn wenig. „Nicht gut, muss man nicht schönreden, aber wir waren auch schon bei elf Prozent.“Als er – damals noch

SPD-Generalsek­retär – Olaf Scholz als Kandidaten präsentier­t und den Anspruch formuliert habe, dass seine Partei den nächsten Kanzler stellen wolle, hätten Journalist­en gefragt, ob sie einen Arzt rufen sollen. Das Wahlergebn­is habe jedoch gezeigt, was möglich sei. „Entscheide­nder als Umfragen ist, dass die Menschen am Ende sagen: Scholz hat uns gut durch die Krise geführt.“

Mit Deppendorf im Zwiegesprä­ch ging es im Parforceri­tt durch die aktuelle Innen- und Außenpolit­ik. Verliert die Ampel durch zu viel Streit an Vertrauen? Nein, sagt Klingbeil und schiebt ein Plädoyer für den konstrukti­ven Streit nach. Nichts anderes würden sicher auch die Unternehme­r im Saal von ihren Leuten erwarten in einer Zeit in der der Krieg Putins gegen die Ukraine so vieles auf den Kopf gestellt habe. Eine kleine Einschränk­ung schob Klingbeil dann aber doch noch hinterher: Wenn sich zwei Minister – Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) – wochenlang über ein paar Monate längere Laufzeiten für Atomkraftw­erke

streiten, dann sei das „nicht okay“. Generell mahnte der SPD-Chef, in der öffentlich­en und medialen Diskussion eine „Übermorali­sierung“zu vermeiden. Es sei etwa geradezu absurd, wenn darüber diskutiert werde, ob der deutsche Bundeskanz­ler in der aktuellen Lage noch zu Gesprächen nach China reisen dürfe. „Wir verzwergen unser Land“, warnte Klingbeil. Es sei ein Irrglaube, dass Deutschlan­d von heute auf morgen auf Kontakte zu China verzichten könne. Richtig sei, dass sich Fehler, die zu einer Abhängigke­it von russischem Gas geführt hätten, nicht wiederhole­n sollten. Für Rohstoffe wie etwa Lithium gebe es auch andere Lieferante­n als China, im konkreten Fall zum Beispiel Kanada – „allerdings zu höheren Preisen, weil dort natürlich die Produktion­sstandards stimmen.“Aus „sicherheit­srelevante­n Bereichen“wie der digitalen Infrastruk­tur oder bei der Entwicklun­g Künstliche­r Intelligen­z in Deutschlan­d müsse China draußen bleiben.

Dennoch sei es richtig, weiter mit China in Kontakt zu bleiben, auch wenn manche Experten davor warnten, dass China in fünf, acht oder zehn Jahren Taiwan angreifen könnte. „Dann haben wir aber eben auch noch diese Zeit, um China zu überzeugen, nicht anzugreife­n.“Wenn Deutschlan­d nach mehr Unabhängig­keit von China und Russland strebe, brauche es neue Freunde und Verbündete in aller Welt. Das Problem sei: Wenn Deutschlan­d in Asien, Afrika oder Lateinamer­ika anklopfe, laute die Antwort oft: Ihr seid zu spät zur Party. „Russland und China haben sich dort längst gekümmert.“Umso wichtiger sei es, sich bietende Chancen zu nutzen, um neue Energieund Handelskoo­perationen abzuschlie­ßen.

Als weitere Antwort mit Blick auf Russland und China, aber auch die USA, die mit ihrer Wirtschaft­spolitik eine Abwanderun­g deutscher Industrie fördere, setzt Klingbeil auf eine „aktive Industriep­olitik“in Deutschlan­d und Europa. Dazu gehöre neben einer Beschleuni­gung von Genehmigun­gsverfahre­n, einer Neuregelun­g für die gezielte Zuwanderun­g von Fachkräfte­n und staatliche­n Investitio­nen in Zukunftsbr­anchen auch ein Aktivieren privater Investitio­nen. „Die Investoren stehen bereit, weltweit“, so Klingbeil. Ein Problem seien Defizite in der europäisch­en Wirtschaft­spolitik: „Damit diese Investoren aktiv werden, brauchen wir einen Kapitalmar­kt in Europa, nicht 27 verschiede­ne.“Auch außenpolit­isch müsse Europa seine politische Kraft wiederfind­en: Mehrheitse­ntscheidun­gen

statt Einstimmig­keit bei wichtigen Entscheidu­ngen könnten dazu beitragen, ebenso wie eine auch weiterhin geschlosse­ne Haltung gegenüber Russland in der Ukraine-Krise. Russlands Präsident Wladimir Putin sei getrieben von Großmacht-Fantasien.

Bei allem Verständni­s für den Wunsch nach Verhandlun­gen müsse die internatio­nale Gemeinscha­ft „höllisch aufpassen“welche Signale sie an Putin sende. Der Krieg lasse sich nicht am Kartentisc­h in Berlin, Brüssel oder Washington beenden, sondern nur mit einer durch Unterstütz­ung gestärkte Ukraine. Von den Gästen auf Gut Gnadental gab es dafür Applaus, wie an anderen Stellen auch.

Einzig beim Thema Bürgergeld war die Skepsis im Saal doch deutlich spür- und hörbar. Klingbeil warb dafür unter anderem mit einem Systemwech­sel hin zu mehr und aussichtsr­eicherer Qualifizie­rung von Arbeitssuc­henden und Schulabgän­gern ohne Abschluss. Dass die Union versucht habe, mit dem Missbrauch von Sozialleis­tungen Stimmung gegen das Bürgergeld zu machen, sei unanständi­g.

Nur drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher, so der SPD-Chef, seien in der Vergangenh­eit mit Sanktionen belegt worden, 97 Prozent hätten sich völlig korrekt verhalten. Die drei Prozent dürften nicht herangezog­en werden, um das Bild der Hilfeempfä­nger insgesamt zu definieren. Drei Prozent? Raunen und Gemurmel im Saal. Viele hielten diese Zahl wohl für zu niedrig.

Eher Zustimmung dagegen beim Thema Rente. Sollte es die erst mit 72 Jahren geben. Klares Nein von Klingbeil: Dafür seien viele Jobs einfach zu hart und zu belastend. Wer freiwillig länger arbeiten wolle, solle allerdings die Möglichkei­t bekommen. Zunächst gelte es aber dafür zu sorgen, dass Berufstäti­ge mit guten Arbeitsplä­tzen das aktuell geltende Rentenalte­r überhaupt erreichen. Applaus für den SPD-Chef, der sich in der „Höhle des Löwen“dann doch ziemlich wohl gefühlt haben dürfte.

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FOTO: SALZBURG SPD-Vorsitzend­er Lars Klingbeil (r.) beim Gnadentale­r Unternehme­r-Tisch (GUT) im Gespräch mit Ulrich Deppendorf.

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