Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Finnland probt den Ernstfall
NORDKARELIEN Es ist kalt in Finnisch-Nordkarelien, das Thermometer zeigt drei Grad. Eine dünne Schneedecke bedeckt den Waldboden. Fichten, Kiefern und Birken wirken wie mit Puderzucker bestäubt. Der Mann in Uniform mit Kopfhörern hat keinen Sinn für das winterliche Idyll. Petteri Lokkala, Feldwebel der Reserve des Uttri-Jäger-Regiments, erwartet den Feind, die Attacke der „Gelben“. Um ihn herum sind Soldaten in weißer Tarnkleidung mit Funkgeräten und Sturmgewehren positioniert. Über Funk wird er über die Position der Artillerie informiert, die anderthalb Kilometer entfernt stationiert ist. „Wir werden den Feind massiv unter Beschuss nehmen, wir versuchen, seinen Angriff zu verlangsamen und so viel Zerstörung wie möglich anzurichten“, sagt der 48-Jährige sachlich.
„Kontio (Bär) 2022“heißt das größte finnische Manöver in diesem Jahr, an dem Lokkala und weitere achttausend Soldatinnen und Soldaten teilnehmen. Sie sollen, wie es offiziell heißt, den Umgang „mit einer sich schnell entwickelnden Situation“üben. Oder deutlicher: Sie sollen vorbereitet sein auf eine mögliche Invasion der russischen Streitkräfte
über die Grenze, die nur wenige Kilometer entfernt ist.
Lange war das Verhältnis mit dem östlichen Nachbarn entspannt, die russische Invasion in der Ukraine hat die Regierung in Helsinki jedoch bewogen, im Juni die NatoMitgliedschaft zu beantragen. Die aktuelle Übung ist ohne Nato-Soldaten geplant, doch in Zukunft soll es noch mehr Kooperation mit dem Westen geben.
Vor rund 83 Jahren, am 30. November 1939, hatte die russische Rote Armee Finnland angegriffen. Im sogenannten Winterkrieg konnte sich das kleine Land lange erfolgreich verteidigen, bis Helsinki im März 1940 zu Gebietsabtretungen bereit war. Bei einer möglichen russischen Aggression gebe es jetzt jedoch einen entscheidenden Unterschied, sagt Lokkala. „Die heutigen Panzer sind größer als damals, diese Bäume hier stellen kein Hindernis dar.“Somit könnte Russland an jeder Stelle der 1340 Kilometer langen zumeist bewaldeten Grenze zuschlagen.
Daher sei es wichtiger denn je, die Verteidigung zu trainieren. So wichtig, dass auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Staatspräsident Sauli Niinistö, persönlich vor Ort ist. Er trägt wie seine Offiziere einen weißen Kampfanzug und stellt viele Fragen: Verteidigungsvorbereitungen, Details des feindlichen Vorstoßes, Flankenangriff.
Anschließend muss Niinistö selbst Fragen beantworten. Ob er beim Militär oder in der Bevölkerung Finnlands ein erhöhtes Bewusstsein oder gar Angst vor einer russischen Invasion feststelle? Niinistö verweist auf eine „andersartige Geisteshaltung“seiner Landsleute, die sich über Jahrzehnte entwickelt habe. „Das bedeutet, dass Sicherheit die wichtigste Sache ist. Wir hatten damit in der Vergangenheit ein Problem. Und das hat sich nicht verändert. Es ist nur sichtbarer geworden, durch die russische Invasion in der Ukraine.“Gegenüber den einheimischen Medien lobt der 74-jährige Konservative vor allem die Motivation der Truppe.
Diese Einstellung ist den Finnen besonders wichtig. Als typisch finnisch gilt auch „Sisu“, eine Eigenschaft,
die entscheidend für die Armee sei. Markku Karponen, ein Bär von einem Mann und Offizier der Reserve, meint beim gemeinsamen Eintopf-Essen, dass es die Bezeichnung für eine besondere mentale Stärke sei, man gebe nicht auf.
Karponen wirkt bei dem Manöver als besonderer „Nachrichtenoffizier“– er streut „Fake News“über Positionen und Koordinaten, die Soldaten müssen diese dann als solche erkennen. Der Mittfünfziger und Reservist hat als Major den höchsten Rang in den finnischen Streitkräften erreicht. Warum beteiligt er sich an dem Manöver? „Alles für mein Land“, meint er und hält dabei seine Faust vor die Brust. „Ich will mein Land verteidigen“, sagt auch Reservistin Katariina Räsänen bei der zweiten Manövervisite auf die gleiche Frage. Die 23-jährige Unteroffizierin liegt mit ihrem Sturmgewehr im Anschlag auf dem verschneiten Waldboden. Auch Frauen können den Streitkräften beitreten, sie durchlaufen die gleiche Ausbildung
wie die wehrpflichtigen Männer. Zwanzig Prozent der weiblichen Freiwilligen brechen ab, weil sie es körperlich nicht durchstehen. „Es ist hart“, gesteht die Studentin der Ingenieurwissenschaften.
Ab und an donnert es: ArtillerieManövermunition, dazu knattert ein Maschinengewehr irgendwo im kalten Forst. Ein Bus bringt die Journalisten, die die militärische Übung besuchen durften, schließlich zurück in die Provinzstadt Nurmes. Am Ortseingang liegt der Soldatenfriedhof. Ein Feld beherbergt die Gefallenen des Winterkriegs (19391940) und eines die Toten der folgenden Kriegshandlungen (19411945). „All das waren Einwohner der Stadt“, erzählt eine ältere Frau. Und sie nimmt – anders als Soldaten und Politiker – kein Blatt vor den Mund, sondern spricht aus, was wahrscheinlich viele in Finnland denken: „Ja, ich habe Angst vor Putin.“
„Einen Albtraum“nennt ein älterer Verkäufer mit dem Vornamen Teppo im Sportladen eine mögliche Invasion aus Russland, nachdem er zuerst über das baldige Eisfischen und die Eisdicke auf dem PielinenSee gesprochen hat. „Unsere gute Armee und die Nato-Mitgliedschaft bilden bald eine Mauer gegen die Russen“, so seine Hoffnung.
Bei einem großen Manöver direkt an der Grenze zu Russland trainieren 8000 Soldatinnen und Soldaten die Verteidigung ihres Landes im Falle einer Invasion.