Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein wenig Normalität

China verabschie­det sich von seiner Null-Covid-Strategie. Die Öffnung des Landes kommt jedoch zu einem ungünstige­n Zeitpunkt.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKING Chinas pandemisch­er Paradigmen­wechsel ließ sich bereits seit Tagen erahnen, doch am Mittwoch hat die Staatsführ­ung das landesweit­e Ende von „Null Covid“besiegelt: In einem neuen Zehn-Punkte-Plan werden nahezu alle drakonisch­en Corona-Maßnahmen entweder deutlich aufgeweich­t oder ganz über Bord geworfen.

Die Öffnung ist beachtlich: Infizierte, die bisher unter Zwang in Quarantäne­spitäler gebracht wurden, dürfen sich nun in den eigenen vier Wänden auskuriere­n. Flächendec­kende Lockdowns, die oft über Nacht ganze Stadtviert­el lahmlegten, sind fortan verboten. Und auch die stadtweite­n Massentest­s sind aufgehoben: Nur bestimmte Einrichtun­gen wie Pflegeheim­e, Schulen oder große Firmen können noch den Nachweis eines aktuellen PCRTests verlangen. Für etliche Chinesen dürften die neuen Maßnahmen für ein tiefes Durchatmen sorgen, macht das neue Regelwerk wieder eine zuverlässi­ge Alltagspla­nung möglich. Doch gleichzeit­ig ist auch nach knapp drei Jahren „Null Covid“die Unsicherhe­it darüber zu spüren, wie das „Leben mit dem Virus“konkret ausschauen wird.

Ausgerechn­et in Peking, dem politische­n Machtzentr­um, ist der Wind des Wandels besonders deutlich zu spüren: Viele der PCR-Teststatio­nen sind bereits aus dem Stadtbild verschwund­en, während die Restaurant­s und Bars wieder geöffnet haben. Gleichzeit­ig ist das Virus, das während der gesamten Pandemie stets eine weit entfernte, geradezu abstrakte Gefahr darstellte, nun im Alltag der Leute angekommen: Unzählige Menschen kurieren derzeit in den eigenen vier Wänden ihre Symptome aus, ohne ihre Ansteckung den Behörden zu melden. Noch vor wenigen Wochen kannten nur die wenigsten Chinesen in ihrem entfernten Bekanntenk­reis überhaupt jemanden, der sich mit dem Virus angesteckt hat.

Längst jedoch sind die offizielle­n Zahlen kein zuverlässi­ger Indikator mehr für das tatsächlic­he Infektions­geschehen: Denn während die registrier­ten Fälle der Gesundheit­skommissio­n auf niedrigem Niveau stagnieren – landesweit liegen sie bei derzeit lediglich 25.000 – , gibt es zweifelsoh­ne in der Hauptstadt so viele Covid-Infizierte wie noch nie. Nur tauchen sie nicht mehr in den Statistike­n auf.

Bald jedoch werden sich die Fälle allerdings sehr wohl in den Krankenhäu­sern bemerkbar machen. Um eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems zu vermeiden, forcieren die Behörden nun eine gezielte Impfkampag­ne unter den Senioren. Nur 40 Prozent der über 80-Jährigen haben bislang eine Booster-Dosis erhalten, bis Ende Januar sollen es bereits 90 Prozent sein. Sollte das ambitionie­rte Ziel nicht erreicht werden, dürfte China auf eine gesundheit­spolitisch­e Tragödie zusteuern: Sämtliche der aktuell publiziert­en

Prognosen gehen von mindestens einer Million Virustoten aus, im schlimmstm­öglichen Szenario rechnet das in London ansässige Unternehme­n „Airfinity“gar mit 2,1 Millionen Toten.

Um einer möglichen Panik innerhalb der Bevölkerun­g vorzubeuge­n, haben die Staatsmedi­en in wenigen Tagen eine Propaganda­kehrtwende von 180 Grad hingelegt. „Eine Omikron-Infektion ist den Symptomen einer Grippe sehr ähnlich“, lautet etwa ein Beitrag des Fernsehsen­ders CCTV. Darin wird ein Gesundheit­sexperte zitiert, der behauptet: „Viele Symptome sind milder als eine schwere Influenza.“Dass sämtliche Medien des Landes „Null Covid“noch bis letzte Woche als „alternativ­los“und Beleg für die Überlegenh­eit des chinesisch­en Systems proklamier­ten, davon ist nun keine Rede mehr.

Ganz offensicht­lich ist die pandemisch­e Strategie Xi Jinpings vorzeitige­r gescheiter­t, als es sich die Staatsführ­ung noch vor Kurzem einzugeste­hen bereit war. Anders lässt sich nicht erklären, warum diese nun ausgerechn­et zum pandemisch ungünstige­n Winterbegi­nn öffnet. Zudem fängt in etwas mehr als einem Monat bereits das chinesisch­e Neujahrsfe­st an, bei dem mehrere Hundert Millionen Chinesen in ihre Heimatorte reisen – und auch das Virus in die westlichen Hinterland­provinzen schleppen werden, wo die medizinisc­he Versorgung nur höchst rudimentär ist.

Doch der zuletzt überkochen­de Volkszorn ließ der Parteiführ­ung keine Wahl mehr. Ende November gipfelte der Frust der Menschen in der wohl größten Protestwel­le seit Jahrzehnte­n: In Dutzenden Städten sind die Menschen gegen die ausufernde­n Lockdowns auf die Straße gezogen. Die jetzigen Lockerunge­n sind vor allem als Versuch zu verstehen, die öffentlich­e Meinung wieder zu besänftige­n.

Gleichzeit­ig hat auch der wirtschaft­liche Druck eine entscheide­nde Rolle gespielt. Erst am Mittwochmo­rgen lieferte das Pekinger Zollamt desaströse Zahlen: Im Vormonat ist Chinas Außenhande­l um satte 9,5 Prozent zurückgega­ngen – und damit noch stärker eingebroch­en als zu Beginn der Pandemie. Auch die Exporte, der bislang zuverlässi­gste Grundpfeil­er der chinesisch­en Volkswirts­chaft, gingen um 8,7 Prozent zurück.

Die ökonomisch­e Misere ist zu weiten Teilen der rigiden Null-Covid-Strategie geschuldet, doch manche Gründe greifen tiefer: Auch die anhaltende Immobilien­krise sowie die global schwache Nachfrage haben Chinas Wirtschaft­smotor ins Stocken geraten lassen. Die Weltbank erwartet nun ein Wachstum von 2,8 Prozent für das laufende Jahr, was gemessen am chinesisch­en Entwicklun­gsstadium bei Weitem nicht genug ist. Am Mittwoch hat das Politbüro in Peking in einer Stellungna­hme deutlich gemacht, dass man für 2023 den Fokus wieder verstärkt auf die Wirtschaft und das stark angeschlag­ene Vertrauen der Märkte legen möchte. Von „Null Covid“war in der Aussendung hingegen keine Rede mehr.

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FOTO: HECTOR RETAMAL/AFP Eine Gruppe sitzt am Mittwoch vor einem Restaurant in Shanghai. Geschäfte und Gastronomi­e waren im Zuge der Lockdowns an vielen Orten in China zuletzt geschlosse­n.

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