Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Theaterreifer Wirecard-Prozess
An diesem Donnerstag beginnt das Verfahren gegen die mutmaßlichen Drahtzieher.
MÜNCHEN Die Liste ist lang: Über den Niedergang dieses Unternehmens tagte bereits ein Untersuchungsausschuss des Bundestags, es gibt Bücher, Filme und sogar zwei Theaterstücke: „Kick & Kollaps“heißt eines davon, unlängst wurde es in Bamberg uraufgeführt. Gezeigt werden darin laut dem ETA-Hoffmann-Theater „klassische imperialistische Träume“und „wie Männer in der Wirtschaft Unternehmen gegen die Wand fahren“.
Die Geschichte hat das Leben geschrieben: Das Stück handelt von Wirecard, der einstigen AufsteigerFirma Nummer eins, ein in den Himmel gelobtes Tech-Unternehmen, das als Vorbild und Aushängeschild für eine wirtschaftlich gelungene Transformation Deutschlands ins digitale Zeitalter galt. Von diesem Donnerstag an geht es nun vor Gericht um Wirecard. Und damit um den mutmaßlich größten Kriminalfall der bundesrepublikanischen Wirtschaft. Drei Ex-Bosse des einstigen Entwicklers von digitalen Zahlungssystemen müssen sich nach der Megapleite im Juni 2020 nun vor dem Landgericht München verantworten.
Sie sind angeklagt wegen „gewerbsmäßigen
Bandenbetrugs“. Milliarden von Euro seien, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, aus dem Unternehmen gezogen, Geschäfte erfunden und Bilanzen gefälscht worden.
Hauptangeklagter ist der ehemalige Vorstandsvorsitzende Markus Braun. Der 53-Jährige, der Wirecard von 2002 an geleitet hatte, sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft. Er bestreitet, in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen zu sein, alles soll hinter seinem Rücken geschehen sein. Oliver Bellenhaus war Wirecard-Vertreter in Dubai und soll dort nicht existierende Geschäfte fingiert haben. Er stellt die größte Gefahr dar für Braun und den ebenfalls angeklagten Finanzvorstand Stephan von Erffa: Denn nach dem Firmen-Crash reiste Bellenhaus von Dubai zur Münchner Staatsanwaltschaft und packte aus, er gilt als Kronzeuge.
Es steht ein Mammut-Verfahren an: Allein bis Ende 2023 hat die Wirtschaftsstrafkammer 100 Verhandlungstermine angesetzt, 2024 könnten weitere folgen. Wirecard
hatte bis zum Zusammenbruch weltweit massiv expandiert und stellte sich den Strafverfolgern als äußerst verschachteltes Unternehmen dar. Bis zur Anklage untersuchten die Ermittler 340 Firmen, 450 Personen und 1100 Bankverbindungen. Es kam zu 450 Vernehmungen.
Mit der Digitalisierung hatte Wirecard sein Geschäftsmodell entwickelt. Es wurden neue technische Möglichkeiten geschaffen, wie digital bezahlt werden konnte. Die Zentrale lag in einem schmucklosen Bürogebäude in Aschheim bei München, weltweit hatte das Unternehmen 5100 Beschäftigte. Geschäfte wurden in Singapur gemacht und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Malaysia und auf den Philippinen. Wirecard galt als Verheißung der neuen, globalisierten Welt – mit prominenten Fürsprechern. Doch spätestens seit 2015 schossen nach Ansicht der Anklage nicht nur Bilanzsummen, Gewinne und der Aktienkurs in die Höhe – sondern es gab vermehrt Luftbuchungen, Geschäfte, die nur auf dem Papier existierten.
Eine wichtige Person sitzt in München nicht auf der Anklagebank: das einstige Vorstandsmitglied Jan Marsalek, ein Österreicher wie Markus Braun auch. Marsalek gelang eine filmreife Flucht. Er ist international zur Fahndung ausgeschrieben.