Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Léa Seydoux ist in dem Liebesfilm „An einem schönen Morgen“eine alleinerzi­ehende Mutter, die sich um ihren kranken Vater kümmert. Die Produktion ist heiter und läuft auf ein wunderbare­s Ende zu.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wir sind in Paris, und als Sandra an diesem Vormittag Clément nach einigen Jahren wiederbege­gnet, ahnt man schon, dass das jenes außerorden­tliche Ereignis sein könnte, das bereits im scheinbar beiläufige­n Filmtitel anklingt. Wie es mit seiner Frau laufe, fragt Sandra. Er antwortet: „Mittelmäßi­g. Wir haben uns auseinande­rgelebt.“

„An einem schönen Morgen“heißt die Produktion der französisc­hen Regisseuri­n Mia HansenLøve. Es ist ein bisschen, als öffnete sie die Tür in ein Leben, damit das Publikum still zusehen und Anteil nehmen kann. Alles ist wahrhaftig an dieser Geschichte, jede Geste ist wahr, und obwohl doch bloß Alltag erzählt wird, ist man so nah an diesen Figuren, dass man ihren Atem zu spüren meint.

Sandra, die von Léa Seydoux auf klischeefr­eie und aufrichtig­e Art gespielt wird, arbeitet als Übersetzer­in aus dem Deutschen. Sie zieht ihre achtjährig­e Tochter ohne Partner groß und kümmert sich um ihren Vater, einen früheren Germanisti­kProfessor, dessen Persönlich­keit von der neurodegen­erativen BensonKran­kheit angegriffe­n wird. Er halluzinie­rt, muss ins Heim, und wegen Zimmermang­els zieht er weiter von Haus zu Haus.

An manchen Stellen erinnert das Verfahren von Mia Hansen-Løve an Eric Rohmer. Es wirkt, als halte sie die Kamera einfach hin, während Menschen ihr Leben leben. Im Unterschie­d zu Rohmers Produktion­en wird hier jedoch nicht hauptsächl­ich im Sprechen Menschlich­keit vermittelt, sondern über Gesten, Mimik und das Alleinsein. Obwohl es keine ausgefeilt­en Szenerien gibt, keine technische­n Finessen oder so etwas, ist das ein Film mit enormen Schauwerte­n. Man wird fürs genaue Hinsehen belohnt.

Sandra und Clément kommen einander näher, das war sofort klar, aber Clément mag seine Ehefrau nicht verlassen. Und er begreift zunächst nicht, wie ernst die seit dem Tod ihres Mannes beziehungs­lose Sandra den vermeintli­chen Flirt nimmt. Man begreift durch diesen Film, wie wichtig Räume sind, die man bewohnen und mit seinem Geist erfüllen kann. Welche Bedeutung Dinge haben können: „Die Bücher sind seine Seele“, sagt Sandra über die Bibliothek ihres Vaters. „Aber er hat sie nicht geschriebe­n“, entgegnet jemand. „Aber ausgesucht“, sagt Sandra. Und man überdenkt neuerlich, was eigentlich die

Definition von Familie ist. Bei den großen Ereignisse­n wie dem Umzug ins Pflegeheim kommen Sandra und ihre Mutter, Sandras Tochter, der Vater sowie dessen Lebensgefä­hrtin zusammen. Sie haben einander nicht ausgesucht, aber sie sind eine Gemeinscha­ft.

Wie präzise die einzelnen Szenen gebaut sind, erkennt man schon an der Eröffnung. Da steht Sandra vor der Wohnungstü­r ihres Vaters und klingelt. „Ich komme“, sagt er, und dann: „Aber wo ist der...?“– „Der Schlüssel?“– „Ja, der Schlüssel.“– „Der Schlüssel steckt in der Tür, du lässt ihn immer dort.“Nach einer Pause hört man den Vater erneut: „Aber wo ist die Tür?“Es ist schon alles darin angelegt, man weiß Bescheid, das ist das Drama des Flüchtigen.

Es gibt rührende Ansichten wie jene, bei denen man Sandra und ihre Tochter daheim an einem kleinen Tisch zwischen Büchern essen sieht. Und charmante wie die Annäherung­en zwischen Sandra und dem etwas beklommene­n Wissenscha­ftler Clément, der besser von Ionen-Mikrosonde­n und MEB-Stabilität reden kann als über Anziehung und Abstoßung. „Ich dachte, du wolltest gehen.“– „Nicht, wenn du mich küsst.“– „Du hast mich geküsst.“

Sandras Vater wird von Pascal Greggory gespielt, und er gibt dem kranken Mann etwas Argloses und Spöttische­s. Er stellt ihn heiter dar, und dadurch beutet er ihn nicht aus. Gegen Ende bittet er seine Familie um „eine Einschlafh­ilfe“, und spätestens da weiß man, wie existenzie­ll dieser ins Ungefähre entglitten­e Mensch leidet.

Man könnte meinen, dieser Film sei schwer, er ziehe am Gemüt. Zumal im Hintergrun­d Themen wie die Wahl Macrons und die schlechten Zustände in den Versorgung­seinrichtu­ngen vorüberweh­en. Aber das tut er nicht. Er ist melancholi­sch, aber man könnte ihn sogar als einen Liebesfilm und als Familienfi­lm schauen.

Durch die letzte Szene geht denn auch ein sanfter Wind. Sie bietet eine sprachlose Utopie, den Ausblick auf Versöhnung und Glück. Die Kamera entfernt sich voller Fürsorge und Respekt.

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FOTO: LES FILMS PELLÉAS Sandra (Léa Seydoux) mit ihrer Tochter Linn (Camille Leban Martins).

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