Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Es gab zu viel Harmonie im DFB
Es hat mich überrascht, dass es so schnell ging mit der Personalie Oliver Bierhoff. Aber es spricht für seinen Charakter, dass er sich zurückzieht und damit Verantwortung übernimmt nach dem zweiten Vorrunden-Aus bei einer WM in Folge. Doch allein mit dem Abgang von Bierhoff sind die Probleme des deutschen Fußballs nicht gelöst. Es gibt beim DFB zu viele Theoretiker, die weit weg sind vom Fußball. Man muss wieder nah dran sein am Spiel – in der Spieler-, aber auch in der Trainerausbildung.
Die WM hat auch gezeigt, dass wir in den vergangenen zehn Jahren einige Entwicklungen im Weltfußball verpasst haben, weil wir zu sehr im eigenen Saft kochen. Es ist zwingend notwendig, wieder mehr über den Tellerrand zu schauen, zu gucken wie es in Frankreich, England oder Portugal läuft. Da sehe ich viele Talente, die nachkommen auf hohem Niveau. Portugal kann Ronaldo schonen und groß aufspielen, Frankreich könnte fast drei WM-taugliche Teams stellen und England hat tolle Talente wie Jude Bellingham oder Phil Foden, die schon enorm wichtig sind für das Team.
Ob einer der drei auch Weltmeister wird, kann ich nicht sagen. Brasilien ist für mich der Topfavorit. Frankreich und England treffen im Viertelfinale aufeinander, Portugal ist gegen Marokko Favorit nach dem starken Spiel gegen die Schweiz. Auch Argentinien darf man nicht vergessen. Letztlich ist es aber vor allem eine Sache der Tagesform – das hat Spanien zu spüren bekommen.
Doch der Ausgang der WM ändert nichts daran, dass uns andere Nationen im Moment etwas voraushaben. Warum gehen unsere Ausbilder und Trainer nicht zwingend in die Akademien und Klubs der anderen Nationen und sammeln wichtige Erfahrungen? Das ist nicht ehrenrührig, das zeigt sogar Größe.
Wir haben uns früher immer wieder mit Italienern und Franzosen ausgetauscht – ohne dabei unsere fußballerische Identität zu verlieren. Da müssen wir wieder hin: Input von außen holen, zugleich aber die Vorzüge unseres Fußballs wieder wertschätzen – das ist die richtige Mischung.
Dass Aki Watzke in der Umstrukturierung des DFB eine große Rolle spielt, ist gut. Noch nie war ein Mann von der Liga so nah dran am DFB-Team, und er weiß, wie der Ball rollt und wie die Klubs ticken, er kann die Verbindung zwischen DFB und DFL, also zwischen dem Verband und den Klubs, intensivieren. Auch an der Stelle muss der Austausch wieder größer werden. Dazu gehört, das AkademieKonzept immer wieder zu prüfen. Es kann nicht sein, dass wir über Jahre keine Spezialisten ausgebildet haben, sondern zu viele gleiche Spieler.
Ich hoffe, dass Matthias Sammer im Hintergrund mitarbeitet und Watzke unterstützt. Matthias ist ein Kind des Fußballs, er kennt und liebt ihn – und er ist ein kritischer Geist, der auch Unangenehmes anspricht. Das fehlte im DFB zu lange, das ist sicherlich auch etwas, was sich Oliver Bierhoff vorwerfen lassen muss. Ich habe ihn oft darauf hingewiesen, aber Kritik war nicht gewünscht in seinem Umfeld. Darum bin ich vor Jahren aus dem DFB-Beirat ausgetreten. Ich hoffe, Watzke etabliert mit Sammer im Hintergrund wieder eine gesunde Streitkultur im DFB.
In den vergangenen Jahren gab es zu viel Harmonie im DFB. Das hat zum Stillstand an vielen Stellen geführt. Mehr Reibung wird auch Hansi Flick guttun bei seiner Arbeit. Es ist richtig, ihn im Amt zu lassen – wenn es nicht nur mit Blick auf die EM passiert, sondern er das volle Vertrauen des DFB hat, unseren Fußball wieder auf die Erfolgsspur zu bringen.
Berti Vogts ist als Spieler mit Deutschland Welt- und Europameister geworden. 1996 führte er das DFB-Team als Bundestrainer zum letzten EM-Triumph. Während der der WM in Katar schreibt Vogts in der Rheinischen Post immer wieder über aktuelle Themen.
Der schnelle Rücktritt von Oliver Bierhoff überrascht. Er bietet aber die Chance, dass Hans-Joachim Watzke die Umstrukturierung im Verband vorantreibt. Matthias Sammer sollte ihn als kritischer Geist unterstützen.
BERTI VOGTS