Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Dornrösche­n klingt jeden Tag anders

Die Geigerin Isabelle Faust ist in dieser Saison „Artist in Residence“der Tonhalle. Nun tritt sie in der Reihe „Ehring geht ins Konzert“auf.

- VON ANKE DEMIRSOY

DÜSSELDORF „Ich wollte als Kind eigentlich immer ein Vogel sein“, erinnert sich die Geigerin Isabelle Faust. Schon früh habe das Erleben der Natur in ihr die Sehnsucht geweckt, sich einfach erheben und fliegen zu können. Wer heute Zeuge wird, wie gelassen Isabelle Faust Tonfolgen auf der Bühne zum Schweben bringt, wie ruhevoll Larghetto und Adagio in den Violinkonz­erten von Beethoven und Brahms bei ihr die Schwingen ausbreiten, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Musik ihr diesen Traum erfüllt.

Einen Monat nach Anne-Sophie Mutter, ihrem Kindheits-Idol, kehrt auch Isabelle Faust jetzt in die Tonhalle Düsseldorf zurück. Am 18. Dezember gibt sie in der Reihe „Ehring geht ins Konzert“ihren Einstand als aktuelle Residenzkü­nstlerin. Gemeinsam mit dem Barockense­mble Il Giardino Armonico begibt sie sich auf eine musikalisc­he Italienrei­se. Im Lauf der Saison gastiert sie mit vier weiteren Programmen in der Tonhalle: mit langjährig­en Partnern wie den Pianisten Alexander Melnikov und Kristian Bezuidenho­ut, im März 2023 erneut im moderierte­n Format mit Ehring, zum Abschluss im Juni als Solistin im Violinkonz­ert von Brahms.

Ihr Weg zum Weltruhm erscheint weniger kometengle­ich als bei der Phalanx phänomenal­er Geigerinne­n, die internatio­nale Standards setzen: Hilary Hahn, Janine Jansen, Patricia Kopatchins­kaja, Julia Fischer oder Vilde Frang beispielsw­eise. Die 1972 in Esslingen am Neckar geborene Faust wuchs in einem Lehrerhaus­halt auf, gründete elfjährig mit Bruder Boris und zwei Freunden ein Streichqua­rtett, in dem sie jahrelang die zweite Geige spielte.

Trotz großer Wettbewerb­serfolge im Alter von 17, 20 und 23 Jahren reifte sie nachgerade still zur allseits gefragten Solistin. Heute, im Zenit ihrer Kunst, erreicht ihr Violinspie­l eine ähnlich durchdring­ende Kraft wie die Sprache von Thomas Mann in der Literatur: röntgengle­ich fokussiert, feinsinnig und elegant, mit einem leidenscha­ftlichen Kern, der den Hauch intellektu­eller Überlegenh­eit ausglüht.

Die Veganerin ist eine markante Erscheinun­g. Zur knabenhaft­en

Kurzhaarfr­isur gesellt sich eine Konzertgar­derobe, die mehr auf Understate­ment als auf Glamour setzt. Wie der Dirigent Claudio Abbado, dessen besonderes Vertrauen sie genoss, scheint sie verinnerli­cht zu haben, dass Musik aus der Stille entsteht und Integrität die Grundlage jeder glaubwürdi­gen Aussage ist. Die Perspektiv­e der passionier­ten Kammermusi­kerin hat sie nie verloren: „Sie wird mich mein ganzes Leben lang tragen“, sagte sie in einem Interview.

Dass Bach, Mozart und Beethoven wichtige Säulen in ihrem Repertoire

sind, verwundert nicht angesichts der Reinheit ihres Tons. Stilempfin­den, Werktreue und ein möglichst authentisc­hes Instrument­arium sind ihr wichtig. Neben der Ausbildung durch Christoph Poppen hinterließ aber auch jene des Ungarn Dénes Zsigmondy

Spuren. Isabelle Faust liebt die Musik von Béla Bartók, ist Schönberg und Britten eine ebenso engagierte Interpreti­n wie den Zeitgenoss­en Peter Eötvös und Ondrej Adámek.

Märchenhaf­t ist die Geschichte der Violine, die Isabelle Faust seit nunmehr 26 Jahren spielt. Die Stradivari

mit dem Beinamen „Dornrösche­n“war 150 Jahre lang verscholle­n, bevor das Instrument aus dem Jahr 1704 zufällig auf einem Dachboden in Deutschlan­d entdeckt wurde. Weil die Geige so lange nicht gespielt worden war, musste sie regelrecht aufgeweckt werden: „Das war tatsächlic­h eine Prozedur. Es hat sechs Jahre gedauert“, erinnert sich die Künstlerin. Zu Beginn fand sie nur wenige Töne, die himmlisch klangen – verteilt auf alle vier Saiten. Heute kennt sie die „Dornrösche­n“in- und auswendig, hat aber noch immer Respekt vor ihren Eigenarten: „Sie klingt jeden Tag anders.“Indessen weiß Isabelle Faust mit den Launen ihres Instrument­s umzugehen. Es darf als sicher gelten, dass beide ihr Publikum noch auf viele Segelflüge durchs Reich der Tonarten mitnehmen werden.

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