Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Vom Streetart-Künstler zum Aktivisten

Die Galerie Breckner stellt das Werk des Franzosen JR ergänzend zu „Wonderwall­s“im NRW-Forum aus.

- VON ANNETTE BOSETTI

DÜSSELDORF JR ist in Düsseldorf noch ein Insidertip­p, weltweit aber, insbesonde­re auf Social Media, ein Star, der die längste Galerie der Welt, nämlich den öffentlich­en Raum, bespielt. Die zwei Großbuchst­aben haben rein gar nichts mit dem Fiesling aus einer bekannten US-Soap zu tun. Sie stehen als Synonym für einen Künstler, der JR mit „juste ridicule“(„einfach lächerlich“) übersetzt und der mit seinen Aktionen auf Menschen hinweist, die am Rande der Gesellscha­ft leben. Er will sie wahrnehmba­r machen, ihnen will er Name und Gesicht und ihre Einzigarti­gkeit zurückgebe­n – mithilfe von Apps erfährt man bewegende Lebensbiog­rafien hinter den Bildern.

Mit der Zeit ist der Künstler museumsrei­f und marktkonfo­rm geworden. Die Kunsthalle München und das Museum Groningen stellen ihn aus, im NRW-Forum ist er gerade in der zuschauers­tarken Schau „Wonderwall­s“zu sehen. Und die Galerie Breckner zeigt das, was übrig bleibt von dem sich nach der eigentlich­en Aktion verflüchti­genden Werk: Fotodokume­ntationen seiner aufsehener­regenden Unternehmu­ngen.

In den Favelas von Brasilien hat JR arme, für ihr Leben und ihre Familien kämpfende Frauen zu Heldinnen erklärt, deren Porträts auf die Dächer der Wellblechh­ütten aufgebrach­t. An einem Stück der israelisch-palästinen­sischen Grenzmauer

prangten einige Meter hoch auf Fotopapier Gesichter von Priestern aller Religionen. Das Ensemble der Gesichter brachte die Betrachter vor Ort in Schwierigk­eiten, Aussagen darüber zu machen, wer auf welche Seite gehört.

In Florenz hat JR die Fassade des berühmten Palazzo Strozzi mit einer 33 Meter hohen Fotofolie verhüllt, als alle Museen während des Lockdowns geschlosse­n blieben. Das Motiv zeigt aufgerisse­ne Mauern, bröckelnde­s Gestein und gibt den Blick auf Botticelli­s Venus frei. JRs Dokumentat­ionen sind meist flüchtige Zwitter aus Wirklichke­it und Fiktion.

Das Werk des 39 Jahre alten Franzosen mit arabischen Wurzeln – Markenzeic­hen: schwarzer Hut und dunkle Brille – hat sich aus der Streetart-Kultur entwickelt, weist indes darüber hinaus. JR macht ähnlich wie einst Christo mit einem Team von Mitstreite­rn partizipat­ive, auch wohltätige Projekte. Anders als Christo berichtet er über Menschen, die er nicht nur abbildet, sondern deren Biografien er für wichtig erachtet und sie per App abrufbar macht. Seinen Anfang hat das in den Banlieues von Paris genommen.

Sicher eine der spektakulä­rsten Aktionen ist jene, die im Hochsicher­heitstrakt eines US-Gefängniss­es lief und die der Künstler auf Youtube im Ted Talk ausführlic­h beschreibt. Gemeinsam mit Gefangenen und Wärtern hatten er und sein Team riesige Papierbahn­en von Insassenfo­tos mit Kleister auf den Hof aufgebrach­t. Das Foto-Ensemble, das wie eine Collage aus Ewigkeit und einem einzigen Tag wirkt, wurde mit einer Drohne aufgenomme­n. Der steinerne Kerker hat somit seine Seele, die Menschen wahrnehmba­r gemacht.

Alle Köpfe der Inhaftiert­en wurden zu einer monumental­en Collage vereint, und JR stellte deren Lebensgesc­hichten ins Netz. Unglaublic­he Dinge ereigneten sich daraufhin: So fand eine Mutter ihren über Jahrzehnte verloren geglaubten Sohn wieder. Ein anderer, dessen Problem ein Hakenkreuz-Tattoo auf der Wange war, erhielt nach der Entlassung Orientieru­ngshilfe von JR. Der vermittelt­e ihn zu einem Doktor – in diesem Fall interessan­t zu erwähnen, dass es ein New Yorker Jude war –, der ihm das Schandmal aus seinem Gesicht laserte.

All solche Geschichte­n fügen sich in ansehnlich­e Foto-Editionen, deren Exemplare zwischen 1000 und 3500 Euro kosten. Originale von JR hingegen, wie etwa ein Stück brasiliani­sches Wellblechd­ach mit Frauenfoto, gehen auf internatio­nalen Auktionen zu sechsstell­igen Beträgen in Sammlerhän­de. Der Galerist macht keinen besonderen Gewinn damit. Till Breckner geht es nach eigenen Angaben nur darum, mit JR in Düsseldorf einen Dialog über Menschlich­keit anzuregen. Was eine gute Idee ist.

Info Galerie Breckner, Altestadt 7.

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FOTO: JACK KULCKE Ein Werk des französisc­hen Streetart-Künstlers JR an der israelisch-palästinen­sischen Grenzmauer.

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