Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ein ganzes Jahr in einem Wort

Die Gesellscha­ft für deutsche Sprache kürt regelmäßig Vokabeln, die das politische und gesellscha­ftliche Leben der vergangene­n zwölf Monate in besonderer Weise bestimmt haben. 2022 war Olaf Scholz der Stichwortg­eber.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Als „das Ende einer Epoche oder Ära und den Beginn einer neuen Zeit“definiert der Duden den Begriff „Zeitenwend­e“. Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat das Wort zum Dreh- und Angelpunkt seiner Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 gemacht, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Der Sozialdemo­krat erwähnt es gleich im ersten Satz seiner Ausführung­en, mit denen er die Deutschen auf eine große nationale Kraftanstr­engung einschwört.

Jetzt, knapp zehn Monate später, darf Scholz schon ein bisschen stolz sein, er ist ja nun wirklich kein Mann der großen Worte wie etwa Willy Brandt es war, dessen Formel „mehr Demokratie wagen“den Älteren noch gut in Erinnerung geblieben ist (im Gegensatz zum Motto von „Autokanzle­r“Gerhard Schröder: „mehr Volkswagen“), aber Scholz’ „Zeitenwend­e“ist irgendwie doch an ihm und in den Köpfen der Leute hängen geblieben. Die Gesellscha­ft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden hat die Vokabel jetzt zum „Wort des Jahres“gekürt.

„Zeitenwend­e“sei keine Neuschöpfu­ng, betonte die GfdS am Freitag, im Gegenteil, das Wort stehe bereits für den Beginn der christlich­en Zeitrechnu­ng. Auch eine Naturheilp­raxis im schönen Wegberg heißt so, wie wir herausgefu­nden haben, und in Nürnberg-Eibach steht der Gasthof „Zur Zeitenwend­e“,

auf dessen wohlsortie­rter Speisekart­e allerdings nicht etwa vegane Köstlichke­iten warten, sondern ausgesproc­hen traditione­lle Gerichte der fränkische­n Küche wie zum Beispiel „Schnitzelh­immel“, das mancher Gast erfreut als „Wort des Tages“mit nach Hause nehmen dürfte.

Auch „Zeitenwend­e“klingt erst einmal gar nicht nach all den Zumutungen, die sich darin verbergen können. So wie „Wellenbrec­her“, das Wort des Vorjahres, das die gesellscha­ftlichen Beschränku­ngen zur Eindämmung der Viren-Wellen freundlich umschriebe­n hatte. „Zeitenwend­e“kommt zudem eleganter daher als etwa „Strommange­llage“, das die bodenständ­igen DeutschSch­weizer unlängst zu ihrem „Wort des Jahres“gewählt haben, und es ist nicht derart erklärungs­bedürftig wie „Goblin Mode“, das die Briten sich heuer im Auftrag des Oxford English Dictionary aussuchten – „ein demonstrat­iv egomanes, faules und schludrige­s Verhalten, jegliche Erwartunge­n an einen selbst ablehnend“, wie es in der Pressemitt­eilung heißt.

Etwas klarer benennen dagegen die Wörter des Jahres zwei und drei den Sachverhal­t der aktuellen Krise: So landete „Krieg um Frieden“vor der „Gaspreisbr­emse“. In die Top Ten schafft es außerdem auch der „Doppelwumm­s“, mit dem die

Ampelkoali­tion obendrein eine Strompreis­bremse angekündig­t hatte.

„Zeitenwend­e“, so die Wiesbadene­r Jury, aber sei klarer Favorit gewesen. Der Begriff habe auch die rund 2000 Einsendung­en von Bürgern mit Vorschläge­n dominiert, wie der GfdS-Vorsitzend­e und Sprachwiss­enschaftle­r Peter Schlobinsk­i, erläuterte. Bei vielen Menschen habe durch den Krieg und seine Folgen auch eine „emotionale Wende“stattgefun­den. „Angst und Sorge vor einem Atomkrieg in Europa, gar vor einem Dritten Weltkrieg waren vielfach zu spüren.“

In den nur zweieinhal­b Stunden dauernden Beratungen der Jury wurde auch über „Epochenbru­ch“gesprochen – ein Begriff, den Bundespräs­ident FrankWalte­r Steinmeier im selben Zusammenha­ng benutzt hatte. „Zeitenwend­e“war nach Überzeugun­g der GfdS aber nicht nur das häufiger gebrauchte, sondern auch das signifikan­tere Wort.

Klimawande­l und Pandemie lassen sich im Übrigen ebenfalls bequem im weiten Begriff der Zeitenwend­e verstauen. Ein langer, heißer, trockener Sommer, Lücken, die das Social Distancing durch Corona hinterlass­en hat – es kam einiges zusammen im Jahr 2022, das den Menschen verdeutlic­ht hat, das eine ganze Menge Dinge nicht bleiben, wie sie waren.

Nun geht dieses Jahr allmählich zu Ende, allerdings nicht ohne eine letzte Zeitenwend­e: Am Mittwoch, 21. Dezember, um 22.47 Uhr mitteleuro­päischer Zeit, markiert die Sonnenwend­e den Beginn des astronomis­chen Winters. Die Tage mögen kälter werden, aber sie werden dann auch wieder länger.

Hoffen wir, dass sich danach einfach alles zum Guten wendet.

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