Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Ein ganzes Jahr in einem Wort
Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt regelmäßig Vokabeln, die das politische und gesellschaftliche Leben der vergangenen zwölf Monate in besonderer Weise bestimmt haben. 2022 war Olaf Scholz der Stichwortgeber.
Als „das Ende einer Epoche oder Ära und den Beginn einer neuen Zeit“definiert der Duden den Begriff „Zeitenwende“. Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Wort zum Dreh- und Angelpunkt seiner Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 gemacht, wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Der Sozialdemokrat erwähnt es gleich im ersten Satz seiner Ausführungen, mit denen er die Deutschen auf eine große nationale Kraftanstrengung einschwört.
Jetzt, knapp zehn Monate später, darf Scholz schon ein bisschen stolz sein, er ist ja nun wirklich kein Mann der großen Worte wie etwa Willy Brandt es war, dessen Formel „mehr Demokratie wagen“den Älteren noch gut in Erinnerung geblieben ist (im Gegensatz zum Motto von „Autokanzler“Gerhard Schröder: „mehr Volkswagen“), aber Scholz’ „Zeitenwende“ist irgendwie doch an ihm und in den Köpfen der Leute hängen geblieben. Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden hat die Vokabel jetzt zum „Wort des Jahres“gekürt.
„Zeitenwende“sei keine Neuschöpfung, betonte die GfdS am Freitag, im Gegenteil, das Wort stehe bereits für den Beginn der christlichen Zeitrechnung. Auch eine Naturheilpraxis im schönen Wegberg heißt so, wie wir herausgefunden haben, und in Nürnberg-Eibach steht der Gasthof „Zur Zeitenwende“,
auf dessen wohlsortierter Speisekarte allerdings nicht etwa vegane Köstlichkeiten warten, sondern ausgesprochen traditionelle Gerichte der fränkischen Küche wie zum Beispiel „Schnitzelhimmel“, das mancher Gast erfreut als „Wort des Tages“mit nach Hause nehmen dürfte.
Auch „Zeitenwende“klingt erst einmal gar nicht nach all den Zumutungen, die sich darin verbergen können. So wie „Wellenbrecher“, das Wort des Vorjahres, das die gesellschaftlichen Beschränkungen zur Eindämmung der Viren-Wellen freundlich umschrieben hatte. „Zeitenwende“kommt zudem eleganter daher als etwa „Strommangellage“, das die bodenständigen DeutschSchweizer unlängst zu ihrem „Wort des Jahres“gewählt haben, und es ist nicht derart erklärungsbedürftig wie „Goblin Mode“, das die Briten sich heuer im Auftrag des Oxford English Dictionary aussuchten – „ein demonstrativ egomanes, faules und schludriges Verhalten, jegliche Erwartungen an einen selbst ablehnend“, wie es in der Pressemitteilung heißt.
Etwas klarer benennen dagegen die Wörter des Jahres zwei und drei den Sachverhalt der aktuellen Krise: So landete „Krieg um Frieden“vor der „Gaspreisbremse“. In die Top Ten schafft es außerdem auch der „Doppelwumms“, mit dem die
Ampelkoalition obendrein eine Strompreisbremse angekündigt hatte.
„Zeitenwende“, so die Wiesbadener Jury, aber sei klarer Favorit gewesen. Der Begriff habe auch die rund 2000 Einsendungen von Bürgern mit Vorschlägen dominiert, wie der GfdS-Vorsitzende und Sprachwissenschaftler Peter Schlobinski, erläuterte. Bei vielen Menschen habe durch den Krieg und seine Folgen auch eine „emotionale Wende“stattgefunden. „Angst und Sorge vor einem Atomkrieg in Europa, gar vor einem Dritten Weltkrieg waren vielfach zu spüren.“
In den nur zweieinhalb Stunden dauernden Beratungen der Jury wurde auch über „Epochenbruch“gesprochen – ein Begriff, den Bundespräsident FrankWalter Steinmeier im selben Zusammenhang benutzt hatte. „Zeitenwende“war nach Überzeugung der GfdS aber nicht nur das häufiger gebrauchte, sondern auch das signifikantere Wort.
Klimawandel und Pandemie lassen sich im Übrigen ebenfalls bequem im weiten Begriff der Zeitenwende verstauen. Ein langer, heißer, trockener Sommer, Lücken, die das Social Distancing durch Corona hinterlassen hat – es kam einiges zusammen im Jahr 2022, das den Menschen verdeutlicht hat, das eine ganze Menge Dinge nicht bleiben, wie sie waren.
Nun geht dieses Jahr allmählich zu Ende, allerdings nicht ohne eine letzte Zeitenwende: Am Mittwoch, 21. Dezember, um 22.47 Uhr mitteleuropäischer Zeit, markiert die Sonnenwende den Beginn des astronomischen Winters. Die Tage mögen kälter werden, aber sie werden dann auch wieder länger.
Hoffen wir, dass sich danach einfach alles zum Guten wendet.