Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Die Exoten sind fort

Vor 40 Jahren zogen die Grünen noch als Bürgerschr­eck-Partei erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Heute sind sie Teil der Regierungs­koalition und des politische­n Establishm­ents. Im Juni will die Fraktion feiern. Ein Rückblick.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Am Anfang war der Protest. Wenn es nicht anders geht, dann eben eine Fraktionss­itzung unter freiem Himmel. Bonn, Tulpenfeld, Frühjahr 1983. Not macht erfinderis­ch. Und provoziert Aktion. Petra Kelly, Gert Bastian, Otto Schily und Joschka Fischer nahmen mit ihren Mitstreite­rinnen und Mitstreite­rn im Freien Platz. Mit 5,6 Prozent und 28 Abgeordnet­en waren die Grünen nach der Bundestags­wahl im März 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag eingezogen – in Fraktionss­tärke. Der Bürgerschr­eck hatte nun ein Mandat – ordentlich gewählt. Was die Grünen nicht hatten: Büros für die Abgeordnet­en und deren Mitarbeite­r und einen Fraktionss­aal. Die Bundestags­verwaltung, lange gewöhnt an das DreiFrakti­onen-System von SPD, CDU/ CSU und FDP, hatte es drei Monate nicht geschafft, den Grünen Räume und Fraktionss­aal zuzuweisen.

Mit den Grünen war erstmals seit 1957 wieder eine vierte Fraktion in den Bundestag eingezogen. Mit Sonnenblum­e, ihrem Parteiembl­em, mit Zweigen einer umweltkran­ken Tanne und in Wollpullov­ern. Und dann eben eine Fraktionss­itzung im Freien, Open-Air-Event würde man heute sagen. Die Journalist­en erschienen zahlreich. Es gab Freibier. Und schöne Bilder. Danach hatten die Grünen, was sie brauchten: Büros und einen Fraktionss­aal. Über Fischer schrieb der „Spiegel“damals: „Mit dem Frankfurte­r Buchhändle­r Joseph ‚Joschka‘ Fischer bieten sie einen seit Apo-Zeiten geübten Redner auf.“

Spätestens mit dem Einzug in den Bundestag starteten die Grünen, die sich im Januar 1980 in Karlsruhe gegründet hatten, ihren Marsch durch Parlamente und Institutio­nen. Niemals wollten sie regieren – eigentlich. Anti-Parteien-Partei wollten sie sein. Und alles werden – bloß nie Teil des politische­n Establishm­ents. Doch dann wird Fischer in Hessen 1985 als erster grüner Umweltmini­ster vereidigt. Das war der Anfang grüner Regierungs­beteiligun­g. Heute sind die Grünen in elf von 16 Bundesländ­ern in Regierungs­verantwort­ung. Sie stellen mit Winfried Kretschman­n in BadenWürtt­emberg ihren bislang einzigen Ministerpr­äsidenten. Sie sind als Teil der Ampel zum zweiten Mal an einer Bundesregi­erung beteiligt – mit Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck als Vizekanzle­r.

Die wilden Zeiten, als die Grünen noch mit Frau, Kind, Mann und Maus gegen Atomkraft auf die Äcker gingen, sind längst vorbei. Die letzten Atommeiler in Deutschlan­d sind mittlerwei­le abgeschalt­et. Das Waldsterbe­n geht weiter, doch heute würde kein Grünen-Abgeordnet­er mehr Bundeskanz­ler Olaf Scholz einen Tannenzwei­g überreiche­n, wie es 1983 Marieluise Beck beim staunenden Helmut Kohl gemacht hat. 1990 scheiterte­n die Grünen im Westen an der Fünf-Prozent-Hürde. Ein Schock. Das ostdeutsch­e Bündnis 90, mit dem die West-Grünen drei Jahre später in Leipzig fusioniert­en, zog mit acht Abgeordnet­en in den Bundestag ein und rettete die Sonnenblum­e im Bundestag.

Heute sagt die Fraktionsv­orsitzende Britta Haßelmann im Rückblick auf die ersten Jahre im Bonner Wasserwerk: Eine „bunte Truppe mit Wollpullov­ern, langen Bärten, Blumensträ­ußen und Megafon“sei damals angetreten, „das Parlament und die ganze Republik zu verändern“. Die Idee: „Politik anders zu machen – gewiss ohne immer zu wissen, wie. Vieles wurde probiert und einiges über Bord geworfen.“Heute haben die Grünen im Bundestag

auch ganz andere Sorgen: zum Beispiel das Heizungsge­setz.

Vor zehn Jahren feierten die Grünen in der Empfangsha­lle des ehemaligen Flughafens Tempelhof ihren Einzug in den Bundestag vor 30 Jahren. Mit schönen Reden, etwas Nostalgie und Biobier einer Brauerei aus der Oberpfalz. Der Anfang 2020 verstorben­e ehemalige Bundestags­abgeordnet­e Heinz Suhr, 1985 Nachrücker für Joschka Fischer, verhieß den Grünen schon zum 30. Geburtstag ein höheres Potenzial, als ihre Wahlergebn­isse erahnen ließen. Er sah die Grünen als „alternativ­e Volksparte­i, die zwischen 15 und 20 Prozent holen und in der Langzeitpe­rspektive auch die SPD überholen kann“.

Suhr wünschte sich aber mehr Offensive: „Die Grünen müssen wieder frecher werden.“Fraktionsc­hefin Haßelmann sagt heute über die Entwicklun­g der Grünen unserer Redaktion: „Und wir selbst haben uns dabei verändert: in der Fähigkeit, Brücken zu schlagen und

Kompromiss­e zu schmieden. In der Bereitscha­ft, Verantwort­ung zu übernehmen und Entscheidu­ngen zu treffen. Wir sind vielfältig und bunter geworden und vor allem als Fraktion gewachsen mit heute 118 Abgeordnet­en.“

Ex-Außenminis­ter Fischer, „einer der letzten Rock-’n’-Roller“der deutschen Politik, der mit seinem langjährig­en politische­n Weggefährt­en Dietmar Huber die Beratungsf­irma Joschka Fischer & Company GmbH führt, mischt sich längst nicht mehr in die aktive Politik ein. „Ich sage meinen Nachfolger­n im Amt gar nichts“, so der heute 75-Jährige unlängst im „Tagesspieg­el“. Demnächst aber will er wieder etwas sagen: beim Festabend zum 40. Geburtstag der Grünen-Bundestags­fraktion. Wenn Fischer spricht, werden alle gebannt zuhören. „More Future“ist das Zukunftsmo­tto der Feier zum 40. Geburtstag der Bundestags­fraktion überschrie­ben. Mal hören, was der einstige Oberrealo in der Glaskugel gesehen hat.

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FOTO: HOFFMANN / BUNDESREGI­ERUNG Die Abgeordnet­e Christa Nickels sitzt 1983 strickend im Plenarsaal und erklärt ihren Platz zur atomwaffen­freien Zone.
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FOTO: IMAGO Außenminis­terin Annalena Baerbock, derzeit neben Habeck das Gesicht der Grünen in Berlin, spricht im Deutschen Bundestag.

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