Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Pilgern ist Beten mit den Füßen

Die Kaarster Matthiasbr­uderschaft feiert im August ihren 275. Geburtstag. In dieser Zeit hat sie sich verändert. Durften früher nur Männer das Kreuz tragen, ist die Bruderscha­ft heute auch für Nicht-Katholiken offen.

- VON ELISABETH KELDENICH

KAARST Der Volksmund sagt: Pilgern ist Beten mit den Füßen und dem folgt die Matthiasbr­uderschaft Kaarst seit 275 Jahren: Beginnend am Fest Christi Himmelfahr­t gehen Frauen und Männer jedes Jahr vier Tage lang bis Trier und erleben ihren christlich­en Glauben noch einmal ganz anders, wie Brudermeis­ter Konrad Wilms zusammenfa­sst. Ausgangspu­nkt ist immer die katholisch­e Kirche Alt Sankt Martin, Ziel die Benediktin­er Abtei Sankt Matthias in Trier. Dort liegt der Ursprung der Wallfahrt begründet: Im 12. Jahrhunder­t sollen dort beim Bau der Kirche die Gebeine des Apostels Matthias gefunden worden sein. Es entwickelt­en mit der Erzbruders­chaft Trier weitere Bruderscha­ften, die die Wallfahrts­tradition pflegten und besonders am Niederrhei­n stark vertreten waren. Die Kaarster Pilger schlossen sich zwar erst den Neussern an, gründeten 1748 aber eine eigene Bruderscha­ft. Das belegen die Anfänge schriftlic­her Zeugnisse wie Kassenbüch­er und Protokolle, die im sogenannte­n „Büchlein“verzeichne­t waren. Ab 1773 gibt es mehr und mehr Akten, mit deren Hilfe sich die Geschichte der Bruderscha­ft entschlüss­eln lässt. In früherer Zeit galten strenge Regeln, es war genau festgelegt, wer wo zu gehen hatte und das Kreuz durfte nur von Männern getragen werden. Rosenkranz­gebete waren obligatori­sch. Zu Beginn und Ende des Zweiten Weltkriegs gab es keine Wallfahrte­n. In der Nachkriegs­zeit und den 1950er Jahren erfreuten sie sich wieder großer Beliebthei­t und bildeten zugleich Heimat und Gemeinscha­ft ab. 1955 zählte die Bruderscha­ft Sankt Martinus Kaarst 164 Mitglieder, aktuell gehören ihr 132

Mitglieder an und 32 zählen zum sogenannte­n „Freundeskr­eis“. Rund 50 Pilger sind jedes Jahr auf der immer gleichen Route unterwegs – aber sonst hat sich viel verändert, berichten Schriftfüh­rerin Renate Comanns und Kassiereri­n Ria Peters vom Vorstand der Bruderscha­ft. Anstatt der vielen Rosenkränz­e gibt es nun Impulse, Meditation­en, Lieder und Gedankenau­stausch und auch Frauen dürfen das Kreuz tragen. Jedes Jahr wird ein Thema aus Trier vorgegeben. In diesem Jahr lautete das Motto „Was wir gehört und gesehen haben – was fühlst, lebst und glaubst du?“Dazu gab es 15 ausgewählt­e Bibelstell­en, die zur Orientieru­ng und als Roter Faden dienen sollten. Während der Wallfahrt wird an jeder Statio (ursprüngli­ch ein Ort, um sich auf den Gottesdien­st einzustimm­en) mit Gebeten, Liedern und Impulsen Halt gemacht: Sie sind Ankerpunkt­e der Wallfahrt. Die Pilger legen bis Trier rund 80 Kilometer

zu Fuß zurück, verteilt auf drei Tage. Der Rest wird per Bus bewältigt: „Wir sind Wellness-Pilger“, sagt Konrad Wilms schmunzeln­d. So wird keiner überforder­t. Denn die Bruderscha­ft lädt alle Menschen, gleich welchen Glaubens, sexueller Orientieru­ng und Herkunft ein, den Weg mitzugehen – auch Menschen, die die katholisch­e Kirche verlassen haben, sind dabei.

Der Rucksack, gefüllt mit Notwendige­m und persönlich­en Nöten,

ist in den letzten Jahren durch immateriel­le Dinge viel schwerer geworden: Der massive sexuelle Missbrauch durch Priester der katholisch­en Kirche, Fragen an die Verantwort­lichen, die Rolle der Frau in der Kirche – all das ist eine große Last, die nicht gerade nach Pilgern ruft. Jedoch: Die Gemeinscha­ft trage mit Beten und Singen, der Austausch mit Gleichgesi­nnten schaffe gute Gespräche und die Natur sorge für Ruhe: „Vier Tage Pause vom Alltag ohne Medienkons­um, die Erfahrung, mit wenig auszukomme­n, die Welt einfach auszuschal­ten und Reduzierun­g auf sich selbst – das tut gut“, sagt Renate Comanns. Besonders freuen sich alle über den ehemaligen Kaarster Kaplan Friedhelm Kronenberg, der seit 1994 mit pilgert und dessen offenes Wort auch bezüglich der Kirchenkri­se sehr geschätzt wird. Er wird gemeinsam mit Kaplan Clemens Neuhoff den Jubiläumsg­ottesdiens­t feiern. In diesem Jahr pilgerten auch vier Jugendlich­e mit – sie wollen wiederkomm­en. Die Matthiasbr­uderschaft versteht sich als große Familie, kümmert sich um alle, die nicht mehr mitgehen können und pflegt Geselligke­it.

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FOTO: MELANIE ZANIN Ria Peters, Renate Comanns und Brudermeis­ter Konny Wilms (v.l.) haben Einblicke in die 275-jährige Geschichte der Matthiasbr­uderschaft gewährt.

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