Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Pilgern ist Beten mit den Füßen
Die Kaarster Matthiasbruderschaft feiert im August ihren 275. Geburtstag. In dieser Zeit hat sie sich verändert. Durften früher nur Männer das Kreuz tragen, ist die Bruderschaft heute auch für Nicht-Katholiken offen.
KAARST Der Volksmund sagt: Pilgern ist Beten mit den Füßen und dem folgt die Matthiasbruderschaft Kaarst seit 275 Jahren: Beginnend am Fest Christi Himmelfahrt gehen Frauen und Männer jedes Jahr vier Tage lang bis Trier und erleben ihren christlichen Glauben noch einmal ganz anders, wie Brudermeister Konrad Wilms zusammenfasst. Ausgangspunkt ist immer die katholische Kirche Alt Sankt Martin, Ziel die Benediktiner Abtei Sankt Matthias in Trier. Dort liegt der Ursprung der Wallfahrt begründet: Im 12. Jahrhundert sollen dort beim Bau der Kirche die Gebeine des Apostels Matthias gefunden worden sein. Es entwickelten mit der Erzbruderschaft Trier weitere Bruderschaften, die die Wallfahrtstradition pflegten und besonders am Niederrhein stark vertreten waren. Die Kaarster Pilger schlossen sich zwar erst den Neussern an, gründeten 1748 aber eine eigene Bruderschaft. Das belegen die Anfänge schriftlicher Zeugnisse wie Kassenbücher und Protokolle, die im sogenannten „Büchlein“verzeichnet waren. Ab 1773 gibt es mehr und mehr Akten, mit deren Hilfe sich die Geschichte der Bruderschaft entschlüsseln lässt. In früherer Zeit galten strenge Regeln, es war genau festgelegt, wer wo zu gehen hatte und das Kreuz durfte nur von Männern getragen werden. Rosenkranzgebete waren obligatorisch. Zu Beginn und Ende des Zweiten Weltkriegs gab es keine Wallfahrten. In der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren erfreuten sie sich wieder großer Beliebtheit und bildeten zugleich Heimat und Gemeinschaft ab. 1955 zählte die Bruderschaft Sankt Martinus Kaarst 164 Mitglieder, aktuell gehören ihr 132
Mitglieder an und 32 zählen zum sogenannten „Freundeskreis“. Rund 50 Pilger sind jedes Jahr auf der immer gleichen Route unterwegs – aber sonst hat sich viel verändert, berichten Schriftführerin Renate Comanns und Kassiererin Ria Peters vom Vorstand der Bruderschaft. Anstatt der vielen Rosenkränze gibt es nun Impulse, Meditationen, Lieder und Gedankenaustausch und auch Frauen dürfen das Kreuz tragen. Jedes Jahr wird ein Thema aus Trier vorgegeben. In diesem Jahr lautete das Motto „Was wir gehört und gesehen haben – was fühlst, lebst und glaubst du?“Dazu gab es 15 ausgewählte Bibelstellen, die zur Orientierung und als Roter Faden dienen sollten. Während der Wallfahrt wird an jeder Statio (ursprünglich ein Ort, um sich auf den Gottesdienst einzustimmen) mit Gebeten, Liedern und Impulsen Halt gemacht: Sie sind Ankerpunkte der Wallfahrt. Die Pilger legen bis Trier rund 80 Kilometer
zu Fuß zurück, verteilt auf drei Tage. Der Rest wird per Bus bewältigt: „Wir sind Wellness-Pilger“, sagt Konrad Wilms schmunzelnd. So wird keiner überfordert. Denn die Bruderschaft lädt alle Menschen, gleich welchen Glaubens, sexueller Orientierung und Herkunft ein, den Weg mitzugehen – auch Menschen, die die katholische Kirche verlassen haben, sind dabei.
Der Rucksack, gefüllt mit Notwendigem und persönlichen Nöten,
ist in den letzten Jahren durch immaterielle Dinge viel schwerer geworden: Der massive sexuelle Missbrauch durch Priester der katholischen Kirche, Fragen an die Verantwortlichen, die Rolle der Frau in der Kirche – all das ist eine große Last, die nicht gerade nach Pilgern ruft. Jedoch: Die Gemeinschaft trage mit Beten und Singen, der Austausch mit Gleichgesinnten schaffe gute Gespräche und die Natur sorge für Ruhe: „Vier Tage Pause vom Alltag ohne Medienkonsum, die Erfahrung, mit wenig auszukommen, die Welt einfach auszuschalten und Reduzierung auf sich selbst – das tut gut“, sagt Renate Comanns. Besonders freuen sich alle über den ehemaligen Kaarster Kaplan Friedhelm Kronenberg, der seit 1994 mit pilgert und dessen offenes Wort auch bezüglich der Kirchenkrise sehr geschätzt wird. Er wird gemeinsam mit Kaplan Clemens Neuhoff den Jubiläumsgottesdienst feiern. In diesem Jahr pilgerten auch vier Jugendliche mit – sie wollen wiederkommen. Die Matthiasbruderschaft versteht sich als große Familie, kümmert sich um alle, die nicht mehr mitgehen können und pflegt Geselligkeit.