Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Knöllchen für Kirchgänger
Ausgeweitete Kontrollen und immer mehr Anzeigen aus der Bürgerschaft ließen die Zahl der geahndeten Parkverstöße auf 84.958 Fälle ansteigen. Dahinter steckt ein Konzept, das von einigen als extreme Verschärfung kritisiert wird.
NEUSS Jahrzehntelang konnten Falschparker fast sicher sein, dass ihnen außerhalb der „Schalterstunden“im Rathaus niemand auf die Schliche kommt und ihnen ein Knöllchen hinter den Scheibenwischer klemmt. Zum Beispiel abends und an Wochenenden. Die Zeiten sind vorbei, seit Anfang 2023 die vom Rat beschlossene Stichprobenüberwachung eingeführt wurde, für die drei zusätzliche Politessen angestellt wurden. Die Folge spüren auch die Kirchgänger.
„An St. Quirin habe ich die Messe oft schon sehr teuer bezahlt“, jammert ein Gottesdienstbesucher in einer Textnachricht an „seinen“Stadtverordneten. Und es ist nicht die einzige Zuschrift, die vor allem CDU-Politiker in ihren elektronischen Postfächern finden. 20 Jahre sei es gut gegangen, heißt es in einer anderen Nachricht, dann fiel der offenbar notorische Falschparker auf und klagt: „Das Ganze ist kein Spaß – kostet 55 Euro.“Doch im Hauptausschuss hielt sich das Mitleid in Grenzen. „Ich glaube nicht, dass wir Buße tun müssen, wenn wir an Kirchen kontrollieren“, sagte Bürgermeister Reiner Breuer. Es heiße schließlich Kirchgang und nicht Kirchfahrt, fügte er hinzu.
Thomas Kaumanns (CDU), der auch kirchlich engagiert ist, will sich nicht vor den Karren ertappter Verkehrssünder spannen lassen, die in ihrem Kirchenbesuch offenbar einen Amnestiegrund sehen. „Falschparken ist auch vor einer Kirche Falschparken“, sagt er. Aber es gebe ja einen Ermessensspielraum, fügt er hinzu, schließlich sei in der Vergangenheit oft ein Auge zugedrückt worden. Ihm liegen auch Hinweise auf eine gewissen Systematik der Verkehrsüberwachung vor: freitags Moschee, samstags Synagoge, sonntags Kirchen. Aber das zeigt schon, dass sich das Thema unendlich weiter spinnen ließe. Dann würde er wollen, meldete Carsten Thiel (UWG) eine weitere Ausnahme an, dass bei Eishockeyspielen auch nicht am Südpark kontrolliert wird.
„Wir müssen uns nicht dafür entschuldigen, wenn kontrolliert und sanktioniert wird“, stärkte denn auch Axel Stucke (CDU) den Verkehrsüberwachern den Rücken. Andere Reaktionen geben ihm Recht. „Anwohner und Verkehrsteilnehmer nehmen ordnungswidriges Halten und Parken offensichtlich nicht mehr einfach hin“, hält das Amt für Verkehrslenkung in einem Jahresbericht zur Kontrolle des ruhenden Verkehrs fest. Die von dieser Seite vorgetragenen gerechtfertigten Beschwerden stellt sie den vielen ungerechtfertigte Klagen von Falschparkern gegenüber, die natürlich auch registriert werden. Die Stichprobenüberwachung werde in der Bürgerschaft im Einzelfall als extreme Verschärfung der Überwachungspraxis wahrgenommen, bilanziert die Verwaltung. Man kann leicht erraten, wen sie meint.
Vor Einführung dieser Stichprobenregelung ahndete die Stadt jährlich etwas mehr als 70.000 ParkVerstöße. 2023 schnellte deren Zahl im Vergeich zum Vorjahr um 19 Prozent auf 84.985 Ordnungswidrigkeitenverfahren in die Höhe. Wohl gemerkt: eingeleitete Verfahren. Denn Anzeigen von offensichtlichen Querulanten oder erkennbar bedeutungslosen Ordnungswidrigkeiten muss die Stadt nicht nachgehen – und tut das auch nicht. Kein Pardon gibt es allerdings, wenn Autofahrer Rad- und Gehwege zuparken. Das verbietet schon das Prinzip der Gleichbehandlung, werden dadurch doch die Rechte der Radfahrer und Fußgänger beschnitten. Hinter den steigenden Fallzahlen stecken immer mehr Anzeigen aus der Bürgerschaft, deren Anzahl „förmlich explodiert“, wie die Stadt feststellt. Trotzdem bleibt sie bei der Kalkulation der zu erwartenden Bußgelder defensiv und hat auch für das laufende Jahr „nur“1,6 Millionen Euro im Etat eingeplant. „Nur“, weil dieser Ansatz 2022 – und damit vor der Ausweitung der Kontrollen – schon mit 2,1 Millionen Euro deutlich übertroffen wurde. Das hänge aller alleine damit zusammen, rechnet die Verwaltung vor, dass 2022 ein neuer Bußgeldkatalog mit eklatant erhöhten Regelsätzen vor allem für das Parken auf Rad- und Gehwegen eingeführt wurde. Aber die gelten ja immer noch.