Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Ohne Abwehr siegt man nicht

Ausgerechn­et im so wichtigen Spiel gegen den TV Großwallst­adt ließen die Zweitliga-Handballer des TSV Bayer Dormagen all das vermissen, was ihnen eine Woche zuvor den Sieg bei der HSG Nordhorn-Lingen beschert hatte.

- VON VOLKER KOCH

DORMAGEN Es ist eine sportliche Binsenweis­heit: Titel gewinnt man im Angriff, dem Abstieg entgeht man durch die Abwehr. Weil es eine gefühlte Ewigkeit her ist, dass die Dormagener Handballer um einen Titel gespielt haben, sollte man annehmen, dass dieser Lehrsatz fest in der Vereins-DNA des TSV Bayer verankert ist. Doch ausgerechn­et im so wichtigen Aufeinande­rtreffen mit dem seit dem Zweiten Weihnachts­tag 2023 punktlosen TV Großwallst­adt, mit dem sie den Anschluss ans Tabellenmi­ttelfeld der Zweiten Liga hätten herstellen können, ließen sie all das vermissen, was ihnen eine Woche zuvor den 27:25-Auswärtssi­eg bei der HSG Nordhorn beschert hatte: taktische Disziplin, Cleverness und ein kompromiss­loses Zupacken in der Defensive.

Stattdesse­n machten sie aus einem Handball- ein Ballerspie­l: Gut und gerne 60 Angriffe liefen die Hausherren in ebenso vielen Minuten und boten den 1329 Zuschauern damit einen durchaus unterhalts­amen Abend. 34 eigene Treffer sollten gemeinhin reichen, um ein Heimspiel zu gewinnen. Das taten sie am Freitag nicht, weil die Gäste jedes Dormagener Tor binnen Sekunden mit einem eigenen bestraften und in der Schlusssek­unde eines mehr erzielten – das 35:34 (Halbzeit 16:15) löste Jubelstürm­e beim zuvor so gebeutelte­n TV Großwallst­adt aus und stößt den TSV Bayer ganz tief zurück in den Kampf um den Klassenerh­alt. Da tröstete wenig, dass ein erleichter­ter Gästetrain­er Michael Roth nicht nur zugab: „Ein Unentschie­den wäre am Ende vielleicht gerechter gewesen,“sondern auch prophezeit­e: „Dormagen und Großwallst­adt werden mit dem Abstieg nichts zu tun haben.“

Die durchaus vorhandene Chance, dies schon relativ früh in der Saison tabellaris­ch zu untermauer­n, vergaben die Hausherren geradezu fahrlässig. War bei den Mainfranke­n wenigstens ansatzweis­e eine

Spielidee zu erkennen, nämlich die körperlich­e Überlegenh­eit ihrer Zweimeterm­änner Stefan Salger, Lars Röller und Florian Mohr zum entscheide­nden Faktor zu machen, fehlte auf Dormagener Seite jegliche Struktur. Jeder schoss aus Herzenslus­t aus allen Positionen, jeder schien bei der Deckungsar­beit gedanklich schon beim nächsten Angriffszu­g zu sein. Bezeichnen­d: 24 Mal lagen die Hausherren in Führung, davon fünf Mal mit zwei Treffern, zuletzt beim 33:31 vier Minuten und 17 Sekunden vor Schluss. Doch anstatt Ruhe zu bewahren und ihre Angriffe so auszuspiel­en, wie sie es in Nordhorn bravourös getan hatten, blieben sie ihrem Hurra-Stil weiter treu – mit der Folge, dass das Spiel jedes Mal kippte.

Das alarmieren­dste: Es sind nicht die Jungspunde, von denen Finn Schroven (20) und der mit sieben Treffern beste Werfer Luis Pauli (19) ganz stark aufspielte­n, denen in den entscheide­nden Situatione­n die Nerven versagen. Sondern die, die über jahrelange Erfahrung im Abstiegska­mpf verfügen und die Youngster eigentlich führen sollen: Ian Hüter (26) wirft bei seinem Durchbruch anderthalb Minuten vor dem Schlusspfi­ff den Ball dem bis dahin glücklosen TVG-Keeper Jan-Steffen Minerva genau auf die Füße – statt 34:33 heißt es Sekunden später 33:34.

Sein älterer Bruder Patrick (28) hatte kurz zuvor das Spielgerät aus aussichtsr­eicher Position auf die Torlatte geknallt – und es damit versäumt, den TSV drei Minuten vor Schluss mit 34:32 in Front zu bringen. Der Mannschaft­skapitän war es auch, der mit einem überflüssi­gen Foul an seinem nicht mal den Ball führenden Kreisläufe­rkollegen Florian Mohr den Gästen sechs Sekunden vor Schluss die komfortabl­e Situation bescherte, den finalen Spielzug in aller Ruhe besprechen zu können. Dass dabei Innenblock und der im ersten Durchgang stark auftrumpfe­nde Christian Ole Simonsen die gleiche (kurze) Ecke abdeckten, spricht nicht gerade für eine gute Kommunikat­ion zwischen Abwehrchef und Torhüter. Stefan Salger nahm das Geschenk dankend an und zirkelte das Spielgerät zum entscheide­nden 35:34 ins lange Eck.

Viel Zeit, über all das nachzudenk­en, haben die Bayer-Handballer nicht: Bereits am Dienstag (Anpfiff 19.30 Uhr) geht es bei den Eulen Ludwigshaf­en weiter. Mit so einer „Taktik“wie am Freitagabe­nd dürfte es dort mindestens 40 Gegentore setzen – und die Tatsache, dass sich Trainer Matthias Flohr zum wiederholt­en Male statt mit der Vorbereitu­ng auf das Spiel mit seinem A-Lizenzlehr­gang beschäftig­en muss, stimmt auch nicht zuversicht­licher.

 ?? FOTO: HEINZ J. ZAUNBRECHE­R ?? Bitterer Abgang: Die Dormagener bedanken sich nach der 34:35-Niederlage gegen den TV Großwallst­adt bei ihren Fans.
FOTO: HEINZ J. ZAUNBRECHE­R Bitterer Abgang: Die Dormagener bedanken sich nach der 34:35-Niederlage gegen den TV Großwallst­adt bei ihren Fans.

Newspapers in German

Newspapers from Germany