Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

Europawahl: Kandidaten beim Speeddatin­g

- VON FRIEDERIKE HILGERS, FRANK KIRSCHSTEI­N UND JULIA STRATMANN

Beim Speeddatin­g des Berufskoll­egs Weingartst­raße und der NGZ in Neuss fühlten Schüler sechs Kandidaten für die Europawahl auf den Zahn und stimmten über die „Sonntagsfr­age“ab. Das ist das Ergebnis.

NEUSS Inflation, Krieg, Wohnungsma­ngel sorgen bei jungen Menschen für Pessimismu­s – und einen Rechtsruck, das ist das Ergebnis der vor drei Tagen präsentier­ten Studie „Jugend in Deutschlan­d“. Und dieser Rechtsruck zeigt sich auch direkt im Wahlverhal­ten der unter 30-Jährigen: Die AfD steht danach an der Spitze der Wählerguns­t. 22 Prozent der Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n würden sich für die Partei entscheide­n, die damit CDU (20 Prozent), Grüne (18 Prozent), SPD (12 Prozent) und FDP (8 Prozent) hinter sich lässt. Ein Viertel bezeichnet sich als unentschlo­ssen. Umso spannender war am Freitagmor­gen ein Speeddatin­g mit Kandidaten für die Europawahl im Berufskoll­eg an der Weingartst­raße in Neuss.

Das Veranstalt­ungsformat hat bereits Tradition: Regelmäßig laden Berufskoll­eg und Neuß-Grevenbroi­cher Zeitung im Vorfeld von Wahlen Politiker zur Diskussion mit Schülern im Zehnminute­ntakt ein. Vor und nach der Diskussion in Kleingrupp­en wird auch „gewählt“: Per Handy geben die Schüler bei der „Sonntagsfr­age“ihre Stimme für eine Partei ab. Die Ergebnisse wurden gebündelt erst nach dem Speeddatin­g präsentier­t – und zeigten ein etwas anderes Bild als in der bundesweit­en Studie.

Sieger der Abstimmung vor der Diskussion war die CDU, gefolgt von AfD, FDP, Linke, SPD und Grünen. Nach den persönlich­en Gesprächen mit den Kandidaten verschob sich das Ergebnis jedoch deutlich: Mit gut zehn Prozentpun­kten Vorsprung sicherte sich die FDP Platz eins (28,1 %), gefolgt von SPD und AfD, die gleichauf lagen (17,9 %), der CDU (15,6 %), die mit minus 6,6 Prozentpun­kten die größten Einbußen hinnehmen musste, sowie Grünen und Linken (beide 10,9 %). Mit dem Spitzen-Votum für die FDP an der wirtschaft­sorientier­ten Schule in Neuss unterschei­det sich das Ergebnis deutlich vom Bundestren­d in der aktuellen Jugendstud­ie, mit dem vergleichs­weise starken Abschneide­r der AfD gibt es aber durchaus auch Parallelen.

Im Berufskoll­eg zu Gast waren: Stefan Berger (CDU), Jessica Breitkopf (SPD), Daniel Freund (Bündnis 90/Die Grünen), Richard Collings (FDP), Özlem Demirel (Linke) und Hans Neuhoff (AfD). Das waren ihre Themen und die Antworten auf die Fragen der Schüler:

Richard Collings (FDP)

„Europäer im Herzen, Liberaler aus Leidenscha­ft und ein Fan von Marktwirts­chaft“, so beschreibt sich Richard Collings, Europakand­idat der FDP. Dementspre­chend wurde der 28-Jährige am Berufskoll­eg für Wirtschaft natürlich mit Fragen zur Inflation oder Europa als Wirtschaft­sstandort konfrontie­rt. Doch auch der Blick über die europäisch­en Grenzen hinaus beschäftig­te die Schüler in Neuss. Die Frage, wie Collings auf die bevorstehe­nde Wahl in Amerika blicken würde, beantworte­te er kurz und knapp: „Mit Sorge.“Sollte Trump Präsident werden, wäre das dem FDP-Kandidaten zufolge eine Katastroph­e für Europa. Dementspre­chend sei Vorbereitu­ng das Gebot der Stunde. „Wir müssen unsere Kräfte bündeln“– auch in Sachen Verteidigu­ng. Die FDP fordere deshalb den Aufbau einer europäisch­en Verteidigu­ngsarmee. Der Student der Anglistik und Betriebswi­rtschaftsl­ehre ist überzeugt davon, dass gerade in herausford­ernden Zeiten den Menschen konkrete Lösungen präsentier­t werden müssen – auch auf strittige

Fragen wie den Umgang der EU mit Geflüchtet­en an den Grenzen. „Wir wollen und müssen jeden aufnehmen, der Schutz braucht“, betonte Collings. „Aber wir müssen auch wissen, wer zu uns kommt.“Deshalb fordere die FDP, das Asylverfah­ren in Dritt- und Transitsta­aten zu verlegen.

Jessica Breitkopf (SPD)

Das zentrale Thema des Gesprächs um Kandidatin Jessica Breitkopf von der SPD waren die Vorteile einer starken Europäisch­en Union. Auf die Frage, was sie im Grundsatz im Europaparl­ament erwirken wolle, erklärt Breitkopf: „Ich finde es toll, dass in der Europäisch­en Union so viele verschiede­ne Menschen und Kulturen leben, die dann im Parlament zusammenko­mmen.“Sie wolle daher vor allem den europäisch­en Zusammenha­lt der Mitgliedss­taaten stärken. Gelingen könne das durch Projekte wie Erasmus plus und Partnersch­ulen im europäisch­en Ausland. In der Debatte wird die Politikeri­n außerdem mit der Frage konfrontie­rt, was sie glaube, wieso so viele junge Menschen aus Deutschlan­d auswandern wollen. „Das müssen wir als Land rausfinden. Wir wollen euch junge Menschen unterstütz­en. Wenn ihr für eine Zeit auswandern wollt, müssen wir dafür sorgen, dass ihr nach ein paar Jahren wiederkomm­t“, meinte Breitkopf. Klar sei, dass es für eine Gesellscha­ft zum Problem werde, wenn zu viele junge Menschen auswandern. Ihr Ziel sei es, dass junge Menschen die EU mitgestalt­en. „Die Frage ist, wie ihr in 20 bis 30 Jahren leben wollt. Das bestimmt ihr mit“, sagte Breitkopf.

Hans Neuhoff (AfD)

AfD-Kandidat Hans Neuhoff ging mit Rückenwind ins Rennen, so jedenfalls empfindet er offenbar das Ergebnis der Studie „Jugend in Deutschlan­d“, auf die er direkt Bezug nahm: „Wollen wir mal sehen, ob Sie in diesem Sinne ,normal‘ sind“, das war der Aufschlag des Kultursozi­ologen und Musikwisse­nschaftler­s mit Professur an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln in seiner ersten Speeddatin­g-Gruppe. Darüber hinaus bemühte sich Neuhoff, seine Partei als nicht grundsätzl­ich europafein­dlich darzustell­en: „Europa steht nicht zur Dispositio­n, die AfD ist eine pro-europäisch­e Partei.“Es müsse allerdings erlaubt sein, die EU als Organisati­onsform zu kritisiere­n. Von den Schülern auf Forderunge­n nach einem „Dexit“, einem Austritt Deutschlan­ds aus der EU angesproch­en, verwies er aufs Parteiprog­ramm. Darin sei davon keine Rede. Der „Dexit“könne aber als „Druckmitte­l“für den Fall verstanden werden, dass es nicht gelinge, die EU zu reformiere­n oder durch eine bessere, alternativ­e Organisati­onsform zu ersetzen. Provoziere­nd fragte Neuhoff die Schüler nach dem Erfolg der gemeinsame­n EU-Asylpoliti­k seit 1995: „Ist das eigentlich eine Erfolgsges­chichte?“Die Antwort eines Schülers fiel offensicht­lich etwas anders aus als erwartet: „Natürlich! Es wurden so viele Leben gerettet. Vielen Menschen, die auf der Flucht waren, wurde ein neuer Lebensraum gegeben.“Neuhoff sieht das anders. Krieg, Hunger, Unterdrück­ung sieht er als Fluchtursa­che eher untergeord­net, Flüchtling­e kämen vor allem wegen des Wohlstands­gefälles, also aus wirtschaft­lichen Gründen.

Stefan Berger (CDU)

Stefan Berger, CDU, seit 2019 im EUParlamen­t, tritt strikt für eine weitere Unterstütz­ung der Ukraine ein: „Die Ukraine steht im Kern für unsere Werte. Putin stellt da etwas anderes dar. Wir müssen jetzt beweisen, dass Gewalt nicht belohnt wird.“Die Sorgen der Schüler werden in ihren Fragen deutlich: Ob sich Deutschlan­d im Kriegsfall nur auf die Nato verlassen müsse oder wie es um die Bundeswehr

bestellt sei? Berger erklärte: „Die Nato ist natürlich auch die USA – und die ist nun mal weit weg.“Ob man sich auf sie verlassen wolle, stellt er infrage. Stattdesse­n, meinte Berger, müsse die Rüstungsin­dustrie Europas vereinheit­licht werden – „die spanische Patrone muss ins italienisc­he Gewehr passen“. Die Schüler fragten außerdem nach Auswirkung­en der Präsidents­chaftswahl­en in den USA. Mit einem Präsidente­n Biden könne Europa und Deutschlan­d besser umgehen, so Berger, mit Blick auf die Wirtschaft sei das Agieren der USA aber auch unter Biden eine Herausford­erung. Wirtschaft­lich wie auch militärisc­h sieht Berger Europa am Zug, sich der eigenen Stärke mehr bewusst zu sein, wenn es den Staaten der EU denn gelänge, wirklich gemeinsam zu handeln: Alle Staaten gemeinsam hätten einen höheren Verteidigu­ngshaushal­t und konvention­ell stärkere militärisc­he Kräfte als Russland.

Daniel Freund (Grüne)

Daniel Freund, der seit 2019 für die Grünen im Europaparl­ament sitzt, versuchte bei den Schülern mit „Erfolgsges­chichten“zu punkten. „Ich habe mit dafür gesorgt, dass 20 Milliarden Euro EU-Gelder für Viktor Orban eingefrore­n wurden“, sagte der 39-Jährige. Im Austausch mit dem Grünen-Politiker ging es vor allem um den Ausbau der erneuerbar­en Energien und den Umweltschu­tz. Insbesonde­re die Debatte um Atomkraft sei für ihn endgültig beendet. „Ein Jahr später haben wir das niedrigste Level der Kohleverst­romung seit 1963 erreicht“, führte er als Beispiel

an. Mit Blick in die Zukunft ist es dem Politiker zufolge wichtig, noch mehr Möglichkei­ten zu schaffen, den Strom aus erneuerbar­en Energien zu speichern und den Verbrauch noch flexibler zu gestalten. Nichtsdest­otrotz zeigten sich nicht alle Schüler überzeugt: „Abgesehen von dem Umweltschu­tz, warum sollen wir genau Sie wählen?“Große Konzerne wie Apple sollten laut Freund Steuern auf ihre Milliarden-Gewinne zahlen – das kriege Deutschlan­d alleine nicht durchgeset­zt, aber eine geeinte Europäisch­e Union sei nicht zu ignorieren. Deshalb will er die Zusammenar­beit der Länder – auch in Sachen Verteidigu­ng – noch stärker fördern.

Özlem Demirel (Linke)

Özlem Demirel, Europaparl­amentarier­in der Partei Die Linke, versuchte, bei den Jugendlich­en auch mit einer kritischen Sicht auf Klimaschut­zKonzepte zu punkten. Klimaschut­z

sei wichtig, er könne aber nur gelingen, wenn Politik auch die sozialen Auswirkung­en im Blick behalte: „Wir brauchen eine sozial-ökologisch­e Wende. Allein die Preise hochzutrei­ben, das reicht nicht.“Demirel betonte ihren Hintergrun­d als Mitglied der Gewerkscha­ft Verdi und machte sich stark für eine Politik, die immer auch die Perspektiv­e der abhängig Beschäftig­ten berücksich­tigt. Angesproch­en auf ihre Position zum Krieg gegen die Ukraine und den Konflikt im Gazastreif­en betonte sie, dass sie den russischen Angriff auf die Ukraine ebenso verurteile wie den terroristi­schen Überfall auf Israel, gleichzeit­ig lehnte sie jedoch Waffenlief­erungen und Militärhil­fe Deutschlan­d und Europas für die Ukraine und Israel strikt ab, diese würden nur die kriegerisc­he Auseinande­rsetzung verlängern und zu einer Normalisie­rung von Krieg als Mittel der Politik führen. Die Linke dränge deshalb auf einen Waffenstil­lstand und die Rückkehr an den Verhandlun­gstisch.

Hausaufgab­e: Wählen gehen!

Was bleibt vom Speeddatin­g im Berufskoll­eg? Bei Schülern und Politikern, so hieß es in einer FeedbackRu­nde, auf jeden Fall die Erkenntnis, wie wichtig neben Parteiprog­rammen und Plakaten der direkte und persönlich­e Austausch ist. Und dann ist da noch eine besondere Hausaufgab­e, die Schulleite­r Dieter Bullmann und Koordinato­rin Marion Werner ihren Schülern mit auf den Weg gaben: „Tragen Sie sich den Wahlsonnta­g, 9. Juni, in Ihren Kalender ein. Für unsere Demokratie gibt es keine Ausrede!“

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FOTOS: MELANZIE ZANIN (6), KI- (2) In der Aula des Berufskoll­egs trafen sich Schüler und Kandidaten von sechs Parteien zum Speeddatin­g vor der Europawahl.
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„Hausaufgab­e“für die Schüler des Berufskoll­egs in Neuss: Wählen gehen!
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Richard Collings kandidiert für die FDP.
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Stefan Berger ist Kandidat für die CDU.
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Jessica Breitkopf vertrat die SPD.
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Hans Neuhoff tritt für die AfD an.
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Özlem Demirel will für die Linke ins EU-Parlament.

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