Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss
Europawahl: Kandidaten beim Speeddating
Beim Speeddating des Berufskollegs Weingartstraße und der NGZ in Neuss fühlten Schüler sechs Kandidaten für die Europawahl auf den Zahn und stimmten über die „Sonntagsfrage“ab. Das ist das Ergebnis.
NEUSS Inflation, Krieg, Wohnungsmangel sorgen bei jungen Menschen für Pessimismus – und einen Rechtsruck, das ist das Ergebnis der vor drei Tagen präsentierten Studie „Jugend in Deutschland“. Und dieser Rechtsruck zeigt sich auch direkt im Wahlverhalten der unter 30-Jährigen: Die AfD steht danach an der Spitze der Wählergunst. 22 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen würden sich für die Partei entscheiden, die damit CDU (20 Prozent), Grüne (18 Prozent), SPD (12 Prozent) und FDP (8 Prozent) hinter sich lässt. Ein Viertel bezeichnet sich als unentschlossen. Umso spannender war am Freitagmorgen ein Speeddating mit Kandidaten für die Europawahl im Berufskolleg an der Weingartstraße in Neuss.
Das Veranstaltungsformat hat bereits Tradition: Regelmäßig laden Berufskolleg und Neuß-Grevenbroicher Zeitung im Vorfeld von Wahlen Politiker zur Diskussion mit Schülern im Zehnminutentakt ein. Vor und nach der Diskussion in Kleingruppen wird auch „gewählt“: Per Handy geben die Schüler bei der „Sonntagsfrage“ihre Stimme für eine Partei ab. Die Ergebnisse wurden gebündelt erst nach dem Speeddating präsentiert – und zeigten ein etwas anderes Bild als in der bundesweiten Studie.
Sieger der Abstimmung vor der Diskussion war die CDU, gefolgt von AfD, FDP, Linke, SPD und Grünen. Nach den persönlichen Gesprächen mit den Kandidaten verschob sich das Ergebnis jedoch deutlich: Mit gut zehn Prozentpunkten Vorsprung sicherte sich die FDP Platz eins (28,1 %), gefolgt von SPD und AfD, die gleichauf lagen (17,9 %), der CDU (15,6 %), die mit minus 6,6 Prozentpunkten die größten Einbußen hinnehmen musste, sowie Grünen und Linken (beide 10,9 %). Mit dem Spitzen-Votum für die FDP an der wirtschaftsorientierten Schule in Neuss unterscheidet sich das Ergebnis deutlich vom Bundestrend in der aktuellen Jugendstudie, mit dem vergleichsweise starken Abschneider der AfD gibt es aber durchaus auch Parallelen.
Im Berufskolleg zu Gast waren: Stefan Berger (CDU), Jessica Breitkopf (SPD), Daniel Freund (Bündnis 90/Die Grünen), Richard Collings (FDP), Özlem Demirel (Linke) und Hans Neuhoff (AfD). Das waren ihre Themen und die Antworten auf die Fragen der Schüler:
Richard Collings (FDP)
„Europäer im Herzen, Liberaler aus Leidenschaft und ein Fan von Marktwirtschaft“, so beschreibt sich Richard Collings, Europakandidat der FDP. Dementsprechend wurde der 28-Jährige am Berufskolleg für Wirtschaft natürlich mit Fragen zur Inflation oder Europa als Wirtschaftsstandort konfrontiert. Doch auch der Blick über die europäischen Grenzen hinaus beschäftigte die Schüler in Neuss. Die Frage, wie Collings auf die bevorstehende Wahl in Amerika blicken würde, beantwortete er kurz und knapp: „Mit Sorge.“Sollte Trump Präsident werden, wäre das dem FDP-Kandidaten zufolge eine Katastrophe für Europa. Dementsprechend sei Vorbereitung das Gebot der Stunde. „Wir müssen unsere Kräfte bündeln“– auch in Sachen Verteidigung. Die FDP fordere deshalb den Aufbau einer europäischen Verteidigungsarmee. Der Student der Anglistik und Betriebswirtschaftslehre ist überzeugt davon, dass gerade in herausfordernden Zeiten den Menschen konkrete Lösungen präsentiert werden müssen – auch auf strittige
Fragen wie den Umgang der EU mit Geflüchteten an den Grenzen. „Wir wollen und müssen jeden aufnehmen, der Schutz braucht“, betonte Collings. „Aber wir müssen auch wissen, wer zu uns kommt.“Deshalb fordere die FDP, das Asylverfahren in Dritt- und Transitstaaten zu verlegen.
Jessica Breitkopf (SPD)
Das zentrale Thema des Gesprächs um Kandidatin Jessica Breitkopf von der SPD waren die Vorteile einer starken Europäischen Union. Auf die Frage, was sie im Grundsatz im Europaparlament erwirken wolle, erklärt Breitkopf: „Ich finde es toll, dass in der Europäischen Union so viele verschiedene Menschen und Kulturen leben, die dann im Parlament zusammenkommen.“Sie wolle daher vor allem den europäischen Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten stärken. Gelingen könne das durch Projekte wie Erasmus plus und Partnerschulen im europäischen Ausland. In der Debatte wird die Politikerin außerdem mit der Frage konfrontiert, was sie glaube, wieso so viele junge Menschen aus Deutschland auswandern wollen. „Das müssen wir als Land rausfinden. Wir wollen euch junge Menschen unterstützen. Wenn ihr für eine Zeit auswandern wollt, müssen wir dafür sorgen, dass ihr nach ein paar Jahren wiederkommt“, meinte Breitkopf. Klar sei, dass es für eine Gesellschaft zum Problem werde, wenn zu viele junge Menschen auswandern. Ihr Ziel sei es, dass junge Menschen die EU mitgestalten. „Die Frage ist, wie ihr in 20 bis 30 Jahren leben wollt. Das bestimmt ihr mit“, sagte Breitkopf.
Hans Neuhoff (AfD)
AfD-Kandidat Hans Neuhoff ging mit Rückenwind ins Rennen, so jedenfalls empfindet er offenbar das Ergebnis der Studie „Jugend in Deutschland“, auf die er direkt Bezug nahm: „Wollen wir mal sehen, ob Sie in diesem Sinne ,normal‘ sind“, das war der Aufschlag des Kultursoziologen und Musikwissenschaftlers mit Professur an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln in seiner ersten Speeddating-Gruppe. Darüber hinaus bemühte sich Neuhoff, seine Partei als nicht grundsätzlich europafeindlich darzustellen: „Europa steht nicht zur Disposition, die AfD ist eine pro-europäische Partei.“Es müsse allerdings erlaubt sein, die EU als Organisationsform zu kritisieren. Von den Schülern auf Forderungen nach einem „Dexit“, einem Austritt Deutschlands aus der EU angesprochen, verwies er aufs Parteiprogramm. Darin sei davon keine Rede. Der „Dexit“könne aber als „Druckmittel“für den Fall verstanden werden, dass es nicht gelinge, die EU zu reformieren oder durch eine bessere, alternative Organisationsform zu ersetzen. Provozierend fragte Neuhoff die Schüler nach dem Erfolg der gemeinsamen EU-Asylpolitik seit 1995: „Ist das eigentlich eine Erfolgsgeschichte?“Die Antwort eines Schülers fiel offensichtlich etwas anders aus als erwartet: „Natürlich! Es wurden so viele Leben gerettet. Vielen Menschen, die auf der Flucht waren, wurde ein neuer Lebensraum gegeben.“Neuhoff sieht das anders. Krieg, Hunger, Unterdrückung sieht er als Fluchtursache eher untergeordnet, Flüchtlinge kämen vor allem wegen des Wohlstandsgefälles, also aus wirtschaftlichen Gründen.
Stefan Berger (CDU)
Stefan Berger, CDU, seit 2019 im EUParlament, tritt strikt für eine weitere Unterstützung der Ukraine ein: „Die Ukraine steht im Kern für unsere Werte. Putin stellt da etwas anderes dar. Wir müssen jetzt beweisen, dass Gewalt nicht belohnt wird.“Die Sorgen der Schüler werden in ihren Fragen deutlich: Ob sich Deutschland im Kriegsfall nur auf die Nato verlassen müsse oder wie es um die Bundeswehr
bestellt sei? Berger erklärte: „Die Nato ist natürlich auch die USA – und die ist nun mal weit weg.“Ob man sich auf sie verlassen wolle, stellt er infrage. Stattdessen, meinte Berger, müsse die Rüstungsindustrie Europas vereinheitlicht werden – „die spanische Patrone muss ins italienische Gewehr passen“. Die Schüler fragten außerdem nach Auswirkungen der Präsidentschaftswahlen in den USA. Mit einem Präsidenten Biden könne Europa und Deutschland besser umgehen, so Berger, mit Blick auf die Wirtschaft sei das Agieren der USA aber auch unter Biden eine Herausforderung. Wirtschaftlich wie auch militärisch sieht Berger Europa am Zug, sich der eigenen Stärke mehr bewusst zu sein, wenn es den Staaten der EU denn gelänge, wirklich gemeinsam zu handeln: Alle Staaten gemeinsam hätten einen höheren Verteidigungshaushalt und konventionell stärkere militärische Kräfte als Russland.
Daniel Freund (Grüne)
Daniel Freund, der seit 2019 für die Grünen im Europaparlament sitzt, versuchte bei den Schülern mit „Erfolgsgeschichten“zu punkten. „Ich habe mit dafür gesorgt, dass 20 Milliarden Euro EU-Gelder für Viktor Orban eingefroren wurden“, sagte der 39-Jährige. Im Austausch mit dem Grünen-Politiker ging es vor allem um den Ausbau der erneuerbaren Energien und den Umweltschutz. Insbesondere die Debatte um Atomkraft sei für ihn endgültig beendet. „Ein Jahr später haben wir das niedrigste Level der Kohleverstromung seit 1963 erreicht“, führte er als Beispiel
an. Mit Blick in die Zukunft ist es dem Politiker zufolge wichtig, noch mehr Möglichkeiten zu schaffen, den Strom aus erneuerbaren Energien zu speichern und den Verbrauch noch flexibler zu gestalten. Nichtsdestotrotz zeigten sich nicht alle Schüler überzeugt: „Abgesehen von dem Umweltschutz, warum sollen wir genau Sie wählen?“Große Konzerne wie Apple sollten laut Freund Steuern auf ihre Milliarden-Gewinne zahlen – das kriege Deutschland alleine nicht durchgesetzt, aber eine geeinte Europäische Union sei nicht zu ignorieren. Deshalb will er die Zusammenarbeit der Länder – auch in Sachen Verteidigung – noch stärker fördern.
Özlem Demirel (Linke)
Özlem Demirel, Europaparlamentarierin der Partei Die Linke, versuchte, bei den Jugendlichen auch mit einer kritischen Sicht auf KlimaschutzKonzepte zu punkten. Klimaschutz
sei wichtig, er könne aber nur gelingen, wenn Politik auch die sozialen Auswirkungen im Blick behalte: „Wir brauchen eine sozial-ökologische Wende. Allein die Preise hochzutreiben, das reicht nicht.“Demirel betonte ihren Hintergrund als Mitglied der Gewerkschaft Verdi und machte sich stark für eine Politik, die immer auch die Perspektive der abhängig Beschäftigten berücksichtigt. Angesprochen auf ihre Position zum Krieg gegen die Ukraine und den Konflikt im Gazastreifen betonte sie, dass sie den russischen Angriff auf die Ukraine ebenso verurteile wie den terroristischen Überfall auf Israel, gleichzeitig lehnte sie jedoch Waffenlieferungen und Militärhilfe Deutschland und Europas für die Ukraine und Israel strikt ab, diese würden nur die kriegerische Auseinandersetzung verlängern und zu einer Normalisierung von Krieg als Mittel der Politik führen. Die Linke dränge deshalb auf einen Waffenstillstand und die Rückkehr an den Verhandlungstisch.
Hausaufgabe: Wählen gehen!
Was bleibt vom Speeddating im Berufskolleg? Bei Schülern und Politikern, so hieß es in einer FeedbackRunde, auf jeden Fall die Erkenntnis, wie wichtig neben Parteiprogrammen und Plakaten der direkte und persönliche Austausch ist. Und dann ist da noch eine besondere Hausaufgabe, die Schulleiter Dieter Bullmann und Koordinatorin Marion Werner ihren Schülern mit auf den Weg gaben: „Tragen Sie sich den Wahlsonntag, 9. Juni, in Ihren Kalender ein. Für unsere Demokratie gibt es keine Ausrede!“