Neuss-Grevenbroicher Zeitung Neuss

KREUZFAHRT

- VON HENNING RASCHE

Am 23. Mai 2014 hielt der Schriftste­ller Navid Kermani im Bundestag eine Rede, in der er eine neue Lesart des ersten Absatzes des ersten Artikels des Grundgeset­zes präsentier­te. 65 Jahre nach Inkrafttre­ten der Verfassung erinnerte er daran, dass auf den berühmten ersten Satz von der Unantastba­rkeit der Menschenwü­rde ein zweiter folgt: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflicht­ung aller staatliche­n Gewalt.“

Kermani wies also auf einen Widerspruc­h hin. Wenn die Menschenwü­rde wirklich unantastba­r wäre, müsste man sie dann achten und schützen?

Eine interessan­te theoretisc­he Frage, aber bislang von eher begrenztem praktische­m Wert. Wer wüsste besser als die Deutschen, dass Menschen unwürdig behandelt werden können? Das Grundgeset­z selbst ist ja die Antwort darauf.

Zu achten und zu schützen. In den vergangene­n Jahrzehnte­n war dieser Teil von Artikel 1 eher Gegenstand akademisch­er Debatten. Doch nun, 75 Jahre nach Gründung der Bundesrepu­blik, 35 Jahre nach dem Mauerfall und zehn Jahre nach der Rede von Navid Kermani, ist es an der Zeit, ihn mit Leben zu füllen.

Das Land feiert Geburtstag, aber überall liest man, dass es wenig zu feiern gibt. Die „Zeit“hat eine Sonderausg­abe herausgebr­acht mit der Titelzeile: „Glückwunsc­h, Deutschlan­d?“Es sei eher ein Gedenktag als ein Feiertag, schreibt Giovanni di Lorenzo. Als wäre es an der Zeit, sich ins Bett zu legen, um auf den Untergang zu warten.

Deutschlan­d ist verzagt. Wird die Bundesrepu­blik den Bedrohunge­n standhalte­n? Bietet das Grundgeset­z Sicherheit genug?

Die Herausford­erungen sind riesig. Die freiheitli­che und demokratis­che Ordnung wird massiv bedroht. Durch den russischen Neoimperia­lismus, den Faschismus, den Rechtsextr­emismus im In- und Ausland, den Klimawande­l. Angesichts dessen den Kopf in den Sand zu stecken, wie der Vogel Strauß, wäre fatal.

Das Land blickt auf die stabilsten und sichersten 75 Jahre der Geschichte zurück. Die Demokratin­nen und Demokraten in Deutschlan­d, die Verfassung­spatrioten, die jedes Organstrei­tverfahren einem Putsch vorziehen, sollten selbstbewu­sster auftreten. Etwa im Kampf gegen Rechtsextr­emisten.

Es gibt keinen erkennbare­n Grund, aus Angst vor Wahlerfolg­en rechtsextr­emer Parteien, selbst rechtsextr­eme Politik zu betreiben. Nach allen statistisc­hen Erkenntnis­sen sind die Extremiste­n in der Minderheit. Sie dadurch einhegen zu wollen, indem man ihre Politik vorwegnimm­t, lässt die Extremiste­n wie eine Mehrheit erscheinen, die sie nicht hat.

Die FDP plakatiert in diesem Europawahl­kampf: „Migration steuern. Sonst tun es die Falschen.“Dieser Satz ist ein gutes Beispiel für eine Selbstverz­wergung der Demokraten. Weil die potenziell­en Wähler der Rechtsextr­emisten sich etwas wünschen, wird es umgesetzt? Dabei sollte die Mehrheit das doch bitte selbst entscheide­n.

Neben Selbstbewu­sstsein ist etwas anderes entscheide­nd, um die Zeiten zu meistern. Jeder Einzelne ist aufgerufen, Verantwort­ung zu übernehmen. Im Privaten, im Beruf, in der Politik, in der Wirtschaft, im Sport und in den Medien.

Verantwort­ung klingt altbacken, ja beinahe langweilig. Der Ansatz hat auch etwas Konservati­ves. Es verlangt den Bürgerinne­n und Bürgern etwas ab. Aber das ist ein Witz, im Vergleich zu dem, was unseren Vorgängerg­eneratione­n abverlangt wurde.

Zu achten und zu schützen. Artikel 1 des Grundgeset­zes richtet sich an die Staatsgewa­lt. Sie muss dafür sorgen, dass die Menschenwü­rde unantastba­r bleibt. Sie wird verpflicht­et, die Würde selbst nicht zu verletzen und die Bürger vor Verletzung­en zu schützen. Das ist klug. Aber es genügt nicht.

In den vergangene­n Jahren haben Teile der Bürger eine Lieferando-Einstellun­g zur Demokratie entwickelt. Sie verlangen vom Staat, dieser möge umfassend die Probleme lösen und einen selbst bitteschön in Ruhe lassen. Wenn man davon ausgeht, dass eine Demokratie ohne Demokraten nicht funktionie­rt, wie die Weimarer Republik uns lehrt, dann ist eine solche Lieferserv­iceMentali­tät unverantwo­rtlich.

Sie ist dennoch weit verbreitet. Es kommt immer häufiger vor, dass Bürger, Ministerpr­äsidenten, Wirtschaft­slenker oder Arbeitnehm­er in erster Linie Erwartunge­n an andere formuliere­n. Die Bürokratie muss abgebaut werden! Die Bundesregi­erung muss liefern! Wir brauchen Subvention­en! Daran ist mein Vorgesetzt­er schuld!

Und selbstvers­tändlich stehen all sie in besonderer Verantwort­ung. Dies ist kein Entschuldi­gungsschre­iben für Verantwort­liche in Regierunge­n und Konzernzen­tralen. Sondern eine Mahnung daran, dass jeder selbst anfangen kann und sollte.

Denn nicht nur „die Politik“hat den Draht zu uns Bürgern verloren, wie es so oft heißt, sondern auch wir zu ihr. Deswegen stehen auch die Bürger in der – Vorsicht – Verantwort­ung, sich der Politik wieder anzunähern.

Das geht auf verschiede­nen Wegen. Man könnte seine Wahlentsch­eidung nicht dem Wahl-O-Mat überlassen, erst recht nicht, wenn man nur die Hälfte der Thesen überhaupt begreift. Und man könnte – jetzt wird es wirklich altbacken – in demokratis­che Parteien eintreten, wie es seit Jahresbegi­nn schon einige gemacht haben. Die Politiker waren ja vorher auch alle mal Bürger.

Im Jahr 1983 erschien von Geier Sturzflug der Song „Bruttosozi­alprodukt“. Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt. Warum eigentlich nicht?

Da wäre etwa die Sprache. Sind wirklich alle so dumm, wie man immer hört? Die Ampel in Berlin? Die Führungsri­ege der Deutschen Bahn? Oder geht es nicht eine Nummer kleiner? Wir erleben eine Boulevardi­sierung der Alltagsspr­ache. Die Dinge sind nicht mehr nur in der „Bild“allesamt „irre“, „Wahnsinn“, „krank“, „gaga“oder ein „Totalversa­gen“. Sondern auch im Café, in der Straßenbah­n, im vermeintli­ch so unpolitisc­hen Instagram.

Jeder darf sich bei der Wahl seiner Kommentare fragen, ob die Zuschreibu­ng präzise ist. Nicht zu differenzi­eren, sollte den Populisten überlassen werden. Nur für sie ist immer klar, wer auf der richtigen Seite steht (sie) und wer auf der falschen (alle anderen). Die Wahrheit aber ist komplexer, fast immer.

Auch die Medien dürfen im Kampf um Aufmerksam­keit nicht vergessen, dass ihre Verantwort­ung für das Allgemeinw­esen zu groß ist, um bloß Reflexe zu bedienen. Umgekehrt gibt es kein Recht auf Dummheit. Die Demokratie braucht Bürger, die sich in den Qualitätsm­edien informiere­n. Nur so können sie differenzi­ert urteilen.

Zu achten und zu schützen. Damit ist etwas anderes gemeint, als bloß Haltung zu zeigen. Es geht darum, dem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen, andere Meinungen ernst zu nehmen. Ausreden zu lassen. Zuzuhören. Verstehen zu wollen.

Ja, Verantwort­ung zu übernehmen, das ist vielleicht langweilig. Aber ein bisschen Langeweile schadet wohl nicht in diesen daueraufge­regten Zeiten.

Nach 75 Jahren Bundesrepu­blik erscheint das Gerüst, in dem wir es uns eingericht­et haben, selbstvers­tändlich. Dass dies nicht so ist, erinnert die Geschichte vor dem 23. Mai 1949. Damals haben mutige Frauen und Männer Verantwort­ung übernommen für ein Land in Trümmern und es wieder aufgebaut.

Heute liegt das Land nicht in Trümmern, noch nicht. Wir müssen bislang nichts weiter tun, als uns daran zu erinnern: Ach, Deutschlan­d? Das sind ja wir!

Zugegeben, Deutschlan­d ist nicht Hogwarts. Trotzdem lohnt ein Blick auf den dritten Band der Potter-Reihe. In „Der Gefangene von Askaban“geht Harry davon aus, dass es sein Vater ist, der kommt, um seinen Patenonkel und sich selbst zu retten.

Beide, Sirius Black und Harry, liegen am Ufer eines kleinen Gewässers, während die Dementoren ihnen die Glückselig­keit und damit das Leben aussaugen. Bis ein Hirsch erscheint, ein Patronus, also ein Schutzzaub­er, und sie von den Dementoren befreit.

Erst, als Harry mit seiner Freundin Hermine eine Zeitreise unternimmt, und darauf wartet, dass sein Vater kommen wird, um sie zu retten, merkt er, dass niemand kommt. Er selbst, Harry Potter, ist es, der den Hirschen herzaubert. Er muss selbst für den Schutz sorgen.

Es wird niemand kommen, um uns zu retten. Das müssen wir selbst tun.

Denn nicht nur „die Politik“hat den Draht zu uns Bürgern verloren, wie es so oft heißt, sondern auch wir zu ihr

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT

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