Von später Liebe und überraschenden Wendungen
In „Widerfahrnis“zeigt sich Bodo Kirchhoff als Meister des Erzählens
BERLIN – Er heißt nur Reither, sie hat auch einen Vornamen – Leonie –, ist aber meist „die Palm“. Zwei Menschen im Herbst des Lebens, eine entflammende Liebe, eine spontane Reise – Bodo Kirchhoff erweist sich in seiner Novelle „Widerfahrnis“(Frankfurter Verlagsanstalt, 224 Seiten, 21 Euro) einmal mehr als Meister des kunstvollen Erzählens. Dafür erhielt er jetzt den Deutschen Buchpreis 2016.
Reither war Verleger, doch die Leute lesen nicht mehr, so hat er seinen Kleinverlag dicht gemacht und sich in ein Alpental zurückgezogen. Die Palm führte einen Hutladen, doch die Leute tragen keine Hüte mehr, auch sie ist an jenem Rückzugsort gestrandet. Die beiden treffen aufeinander, und es entspinnt sich eine Liebesgeschichte, sehr bedächtig zunächst, sehr zart, in vorsichtigen Dialogen, mit vielen Zigaretten.
Noch einmal Aufbruch also, im übertragenen Sinn, aber auch ganz wörtlich: Sie machen sich auf zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien.
Eine Reise in eine mögliche gemeinsame Zukunft und auch in die Vergangenheit: Ging Reither doch einst auf einer Italienreise eine große Liebe verloren, weil er das gemeinsame Kind abtreiben lassen wollte. Auch die Palm leidet an der Erinnerung: Der Suizid ihrer Tochter hat sie traumatisiert.
So ist das Flüchtlingsmädchen, das in Catania unvermittelt vor ihnen steht und das sie sich kurzerhand ins Auto laden, für die beiden wie ein Hoffnungszeichen – lässt sich verlorenes Familienleben vielleicht noch nachholen? Doch so einfach macht es Kirchhoff seinen Lesern nicht. Reither ist überfordert, die Konfrontation mit der Gegenwart gefährdet seine individualistische Glückssuche.
Langsam, akribisch, fast wie in Zeitlupe beschreibt der Autor, was seinen Figuren widerfährt. Immer wieder gibt es neue Wendungen, und der Ausgang der Geschichte zeigt sich erst im letzten Satz.