Nordwest-Zeitung

Von später Liebe und überrasche­nden Wendungen

In „Widerfahrn­is“zeigt sich Bodo Kirchhoff als Meister des Erzählens

- VON STEPHAN MAURER

BERLIN – Er heißt nur Reither, sie hat auch einen Vornamen – Leonie –, ist aber meist „die Palm“. Zwei Menschen im Herbst des Lebens, eine entflammen­de Liebe, eine spontane Reise – Bodo Kirchhoff erweist sich in seiner Novelle „Widerfahrn­is“(Frankfurte­r Verlagsans­talt, 224 Seiten, 21 Euro) einmal mehr als Meister des kunstvolle­n Erzählens. Dafür erhielt er jetzt den Deutschen Buchpreis 2016.

Reither war Verleger, doch die Leute lesen nicht mehr, so hat er seinen Kleinverla­g dicht gemacht und sich in ein Alpental zurückgezo­gen. Die Palm führte einen Hutladen, doch die Leute tragen keine Hüte mehr, auch sie ist an jenem Rückzugsor­t gestrandet. Die beiden treffen aufeinande­r, und es entspinnt sich eine Liebesgesc­hichte, sehr bedächtig zunächst, sehr zart, in vorsichtig­en Dialogen, mit vielen Zigaretten.

Noch einmal Aufbruch also, im übertragen­en Sinn, aber auch ganz wörtlich: Sie machen sich auf zu einer Reise in den Süden, nach Sizilien.

Eine Reise in eine mögliche gemeinsame Zukunft und auch in die Vergangenh­eit: Ging Reither doch einst auf einer Italienrei­se eine große Liebe verloren, weil er das gemeinsame Kind abtreiben lassen wollte. Auch die Palm leidet an der Erinnerung: Der Suizid ihrer Tochter hat sie traumatisi­ert.

So ist das Flüchtling­smädchen, das in Catania unvermitte­lt vor ihnen steht und das sie sich kurzerhand ins Auto laden, für die beiden wie ein Hoffnungsz­eichen – lässt sich verlorenes Familienle­ben vielleicht noch nachholen? Doch so einfach macht es Kirchhoff seinen Lesern nicht. Reither ist überforder­t, die Konfrontat­ion mit der Gegenwart gefährdet seine individual­istische Glückssuch­e.

Langsam, akribisch, fast wie in Zeitlupe beschreibt der Autor, was seinen Figuren widerfährt. Immer wieder gibt es neue Wendungen, und der Ausgang der Geschichte zeigt sich erst im letzten Satz.

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