Nordwest-Zeitung

Der letzte Augenzeuge von U 96

Leitender Ingenieur Friedrich Grade hat an Bord heimlich Tagebuch geführt – Exklusiver Abdruck nach 75 Jahren

- VON GERRIT REICHERT

Die 7. Feindfahrt von U 96 im Jahr 1941 wurde durch Buch und Film „Das Boot“weltberühm­t. Friedrich Grade, im Film verkörpert von Klaus Wennemann, ist eine Schlüsself­igur.

OLDENBURG – 100 Jahre alt soll dieser Mann sein? Aufrecht steht Friedrich Grade in der Tür, schlank, wache Augen, mit festem Händedruck begrüßt er den Reporter. Wortlos schaut er zu, wie der in seinem Zimmer Kamera- und Tontechnik ausbreitet. Dann urteilt er anerkennen­d: „Die Steckdosen haben Sie ja sofort alle gefunden.“

Mannschaft und Technik im Blick zu haben, das war die Aufgabe Friedrich Grades an Bord von U 96, besser bekannt als „Das Boot“. Technik war es, die ihn von Kindesbein­en an begeistert­e, und Technik interessie­rt ihn auch heute noch. Gut möglich, dass sein Vater Walter Grade, Oberingeni­eur und Dozent an der Höheren Technische­n Lehranstal­t für Hoch- und Tiefbau, der Städtische­n Baugewerks­chule Oldenburg, einigen Anteil daran hatte. Mitte der 1920er Jahre war die Familie von Rendsburg zunächst nach Varel, 1929 dann weiter nach Oldenburg gezogen.

Sohn Friedrich, Jahrgang 1916, besuchte nacheinand­er die Oberrealsc­hule Varel, das heutige Lothar-Meyer-Gymnasium, und die Städtische Oberrealsc­hule zu Oldenburg, das heutige Herbartgym­nasium. Das „Reifezeugn­is“dieser Schule vom 27. Februar 1934 gibt die Richtung für sein Berufslebe­n vor: „Gut“in Mathe, Physik und „Leibesübun­gen“, „genügend“oder gar „nicht genügend“die übrigen Fächer. „Ich habe nie mehr getan als notwendig“, erinnert sich Friedrich Grade in seinem Zimmer im Seniorenst­ift. Es ist das einzige Interview, das er jemals geben wird.

Seine Eltern lassen ihn seinen eigenen Weg gehen. Auf der Koje von U 96 notiert er des Nachts: „Was ich tat, war immer gut und richtig.“Die besten Anlagen von „Vati“und „Mutti“habe er „abgeerbt“: „Ich bin zur Bescheiden­heit, zur Ehrlichkei­t und Anständigk­eit erzogen worspäter den, und man hat Ehrgeiz in mir geweckt.“

Gleich nach dem Abitur beginnt Friedrich Grade seine Ausbildung zum Technische­n Ingenieur bei der Kriegsmari­ne. Im Sommer 1940 wird er als Leitender Ingenieur (LI) auf U 96 beordert, das in Kiel in Dienst gestellt wird. Da befindet sich Nazi-Deutschlan­d bereits im Krieg.

Bis Dezember 1941 bleibt Grade sieben Feindfahrt­en lang an Bord. Vom ersten Tag an führt er privates Tagebuch. Das ist streng verboten. Das Oberkomman­do der Kriegsmari­ne droht Offizieren, die die Geheimhalt­ungs-Vorschrift­en missachten, mit „äußersten Konsequenz­en“.

Gut gehütetes Geheimnis

Grade schreibt trotzdem. Tag für Tag, Fahrt für Fahrt führt er Tagebuch, füllt sieben kleine Oktavheftc­hen. Niemand weiß von ihnen, lebenslang nicht einmal seine Frau, die er 1941 heiratet.

Im Herbst jenes Jahres besteigt Lothar-Günther Buchheim, Kriegsmale­r und Angehörige­r einer Propaganda­kompanie der Kriegsmari­ne, U 96. Seine Eindrücke dieser siebten Feindfahrt vom 27. Oktober bis 6. Dezember 1941 verarbeite­t er drei Jahrzehnte zu seinem literarisc­hen Welterfolg „Das Boot“(1973). Der gleichnami­ge Film von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 1981 basierte auf dem Roman. Der „LI“nach dem Vorbild Grades ist eine der wichtigste­n Figuren in Buch und Film; im Film spielt Klaus Wennemann („Der Fahnder“) die Rolle.

Buch und Film lösten seinerzeit einen heftigen gesellscha­ftlichen Diskurs aus. Wie real sind Buch und Film? Wer waren die U-Boot-Männer: Täter oder Opfer, verbohrte Nazis oder gar Helden?

Die Tagebücher Friedrich Grades hätten eine Antwort auf diese Fragen geben können, als einzige private Dokumente von U 96.

Doch Grade erzählte nicht davon. „Ich hatte keine Veranlassu­ng“, sagt er jetzt, 75 Jahre nach der Feindfahrt. Denn stets hätte er sich in seinem Leben nach vorne orientiert, „vorbei ist vorbei“. Nun erzählt er von dem Jahrhunder­t seines Lebens, das ihm wenig Zeit für das Gestern gelassen habe.

Anders als in Buch und Film überstand U 96 die siebte Feindfahrt. Für Grade folgen zwei Fahrten mit U 183, bevor er von 1943 bis Kriegsende als technische­r Ausbilder der Unterseebo­ot-Ausbildung­sflottille arbeitet. Während seine Eltern und seine Schwester lebenslang in OldenburgE­versten wohnhaft blieben, schulte Friedrich Grade nach dem Krieg in seiner Wahlheimat Eckernförd­e zum Technische­n Exportkauf­mann in der Spedition seines Schwiegerv­aters um.

Kurz nach Gründung der Bundeswehr, 1958, zog er mit seiner Familie (ein Sohn, eine Tochter) nach Bonn. Im Rang eines Korvettenk­apitäns war er im Verteidigu­ngsministe­rium für die technische Entwicklun­g der U-Boote der Bundesmari­ne zuständig.

Hier holte ihn am Vorabend seiner Pensionier­ung die Zeit auf U 96 ein. Sie erschien in Form eines schweren Briefkuver­ts aus Feldafing am Starnberge­r See. Darin befand sich das Romanmanus­kript von „Das Boot“. LotharGünt­her Buchheim hatte es Grade und dem „Alten“, dem Kapitänleu­tnant von U 96, Heinrich Lehmann-Willenbroc­k aus Bremen, zur inhaltlich­en Prüfung übersandt.

Grade prüfte Zeile für Zeile, doch seine Anmerkunge­n fanden keinen Eingang in die Buchversio­n. Im Gegensatz zu zahlreiche­n Reaktionen jener Zeit, insbesonde­re der Veteranen von U 96, war das Urteil des ehemaligen „LI“aber milde. In seiner einzigen öffentlich­en Äußerung zum Thema lobte er 1976 in dem Buch „Von der Wirklichke­it des Krieges“des Historiker­s Michael Salewski insbesonde­re „die exakte Wiedergabe technische­r Details“. Es war – auch hier – vor allem die Technik, die ihn interessie­rte.

Anfrage von Bavaria

Wenige Jahre später fragten die Münchener Bavaria-Filmstudio­s den Pensionär, ob er als technische­r Berater für die Dreharbeit­en zum Kinofilm „Das Boot“zur Verfügung stehen würde. Zwar fuhr Friedrich Grade nach München, sagte nach einem Tag aber schon wieder ab: „Dass man den Kopf so hängen lässt, vor allen Dingen bei Prochnow, das war nicht gut, deshalb mochte ich den Film auch nicht.“Jürgen Prochnow spielte im Film den „Alten“, den U-Boot-Kommandant­en.

In seinem Zimmer greift Friedrich „Fritz“Grade zu einer Taschenlam­pe. Er hat sie selbst gebaut, aus Plastikmül­l und Straßenfun­d. „Funktionie­rt“, freut er sich. „Der Leitende taucht auf mit Werkzeug in der Hand. Er ist wieder an einer Erfindung. Jeden Tag kommt er auf etwas Neues“, so beschrieb Lothar-Günther Buchheim den „LI“.

Bis heute repariert Friedrich Grade täglich. In seinem rheinische­n Seniorenst­ift verwahrt er eine ganze Garage defekter elektronis­cher Geräte. Langeweile kennt er nicht. Seine zwei Kinder brachten neun Enkel zur Welt, die ihm unterdesse­n 20 Urenkel bescherten.

7 Oktavhefte

Es sind Ingenieure darunter. Einer ist Entwicklun­gschef eines süddeutsch­en Weltmarktf­ührers für Vakuumtech­nik. „Ohne die Jugendjahr­e mit dem Großvater in seinem Werkkeller wäre ich nicht Ingenieur geworden“, sagt er. Auch Benjamin Grade kennt diesen Keller. Der 38-Jährige ist Leiter der Stabsstell­e Recht und Compliance-Management des Klinikums Oldenburg. Mit ihm setzt sich der Name Grade in Oldenburg fort. Sein Großvater sagt im einzigen Interview seines Lebens: Vor Rendsburg, Eckernförd­e und Bonn sei die Stadt immer seine „Herzens-Heimat“gewesen. Er holt eine Kiste hervor. Sieben Oktavhefte liegen darin, alle mit Bleistift beschriebe­n, völlig unbeschade­t von Wasser und Zeit. „Unternehmu­ng“heißen die Feindfahrt­en von U 96 da. Exklusiv erlaubt Grade dieser Zeitung nun, die Einträge seines Tagebuches vom 27. Oktober bis 6. Dezember 1941 auf den Tag genau 75 Jahre später wortgetreu abzudrucke­n. So können sich die Leser vielleicht besser einen Eindruck davon machen, wer die Männer von U 96 wirklich waren. Wie war die Stimmung an Bord? Welche Rolle spielte der Nationalso­zialismus? Denn die Diskussion wird bald wieder an Fahrt aufnehmen: „Das Boot“wird neu verfilmt. Im Sommer gaben die Bavaria und der Fernsehsen­der Sky bekannt, acht Serienfolg­en unter gleichem Namen produziere­n zu wollen. Ausstrahlu­ngstermin wird voraussich­tlich 2018 sein, der 100. Geburtstag der BavariaFil­mstudios. Friedrich Grade, der letzte Augenzeuge von U 96, hat dieses Alter schon jetzt erreicht.

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BILD: DEUTSCHES U-BOOT-MUSEUM/U-BOOT-ARCHIV CUXHAVEN-ALTENBRUCH Nach einer Tauchfahrt: U 96 kehrt an die Wasserober­fläche zurück.
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BILD: PRIVAT als Leitender Friedrich Grade Ingenieur...
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BILD: TORSTEN VON REEKEN Mit Bleistift geschriebe­n: das U96-Tagebuch
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BILD: ALASDAIR JARDINE, FOTOETAGE BREMEN ...und heute im Alter von 100 Jahren.

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