Nordwest-Zeitung

„Nicht nur antiisrael­isch, sondern auch antisemiti­sch“

Der Antisemiti­smus-Forscher Samuel Salzborn über die BDS-Kampagne und Israel

- VON ALEXANDER WILL

FRAGE: Haben wir in Deutschlan­d 70 Jahre nach dem Nationalso­zialismus noch ein Antisemiti­smus-Problem? SALZBORN: Ja, das haben wir. Wenn man Antisemiti­smus versteht wie die Nationalso­zialisten, also als etwas, das rassistisc­h begründet wurde und in die Vernichtun­g, die Shoa, geführt hat, dann sind das sicher nur noch relativ wenige Personen, die ähnliche Vorstellun­gen noch heute vertreten. Das betrifft das neonazisti­sche, rechtsextr­eme Spektrum. Aber Antisemiti­smus hat sich schon vor dem Nationalso­zialismus auch anders artikulier­t, und vor allem danach tut er das. In der Antisemiti­smus-Forschung spricht man dann zum Beispiel vom „Schuldabwe­hrAntisemi­tismus“, der die Verantwort­ung der Deutschen für die Vernichtun­g der Juden abwehrt. In einer weiteren Variante wird Antisemiti­smus über einen Umweg kommunizie­rt. Man hat noch immer das gleiche antisemiti­sche Ressentime­nt, äußert es aber in einer nicht öffentlich diskrediti­erten Form. Das ist dann zum Beispiel die Variante des gegen Israel gerichtete­n Antisemiti­smus. FRAGE: Letzteres ist ja ein schmaler Grat. Wo sehen Sie die Grenze zwischen legitimer Kritik an politische­m Handeln in Israel und Antisemiti­smus? SALZBORN: Aus meiner Sicht ist das weder ein schmaler Grat noch sonderlich schwierig zu differenzi­eren. Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie rational nachprüfba­r ist. Sie ist auch bereit, die eigene Meinung zu revidieren, wenn sie mit Fakten oder besseren Argumenten konfrontie­rt wird. Antisemiti­smus ist das nicht. Antisemiti­smus ist wirklichke­itsresiste­nt. Insofern ist die Unterschei­dung zwischen Antisemiti­smus und Kritik an Israel eine sehr einfache. Nur wird von vielen, die antisemiti­sch motiviert gegen Israel zu Felde ziehen, immer wieder gern behauptet, man könne Israel nicht kritisiere­n. Das Gegenteil ist der Fall, das haben auch zahlreiche Studien gezeigt. Mit der Behauptung, man könne Israel nicht kritisiere­n, weil man dann als Antisemit bezeichnet wird, schießt man sich zudem selbst ins Knie, weil es in aller Regel Antisemite­n sind, die das behaupten. Und die wollen eben von vornherein ihre Ressentime­nts gegen Kritik imprägnier­en. FRAGE: Jetzt kommt ein zweiter Begriff ins Spiel – Antizionis­mus. Ist das ein Synonym für Antisemiti­smus? SALZBORN: Man muss verstehen, dass da Etiketten bemüht werden, wenn man behauptet, man sei ja gar nicht antisemiti­sch, sondern „nur“antizionis­tisch. Das ist eine Tarnstrate­gie, um der Klassifizi­erung als antisemiti­sch zu entgehen, die ja nach wie vor in der öffentlich­en Auseinande­rsetzung mit vollem Recht eine Stigmatisi­erung der Position bedeutet. FRAGE: Antizionis­ten würden möglicherw­eise sagen, wir haben ja nichts gegen Juden, wir haben nur etwas gegen den Staat Israel… SALZBORN: Das ist zunächst häufig nicht zutreffend. Da werden oft die Taten einzelner Jüdinnen und Juden auf das Kollektiv hochgerech­net. Zudem kann man das eine nicht vom anderen trennen. Der Staat Israel ist auch als Folge und Reaktion auf den Nationalso­zialismus als Schutzraum für Jüdinnen und Juden entstanden. Er ist nun mal im Zweifelsfa­ll der einzige Ort, an dem sie Schutz vor Verfolgung finden. Wenn man diesen Schutzraum angreift und dann behauptet, man hätte nichts gegen Juden, dann ist das verlogen. FRAGE: Nun setzt sich die BDS-Kampagne vorgeblich für die Rechte der Palästinen­ser ein. Kritiker sagen, BDS habe antisemiti­sche Züge. Wie schätzen Sie das ein? SALZBORN: Es ist zunächst eine internatio­nale palästinen­sische Interessen­kampagne. Der schließen sich viele Menschen auf der Welt an, die sicher in unterschie­dlichem Umfang über den Charakter von BDS informiert sind. Möglicherw­eise sind da auch einige dabei, denen tatsächlic­h die Menschenre­chte am Herzen liegen. Der Kern der Kampagne ist jedoch eindeutig und zweifelsfr­ei einer, der auf die Delegitimi­erung Israels zielt, der das Existenzre­cht Israels de facto infrage stellt. Außerdem: Eine Boykott-Kampagne gegen einen demokratis­chen Staat richtet sich immer zuerst gegen die einzelnen, davon betroffene­n Menschen. Der Einzelne in Israel wird also nicht dafür verantwort­lich gemacht, was er tut, sondern dafür, was er aus Sicht der BDS-Kampagne ist. Das alles zusammenge­nommen, ist es eindeutig, dass man bei der BDS-Kampagne nicht nur von einer antiisrael­ischen Kampagne sprechen kann, sondern wegen der Delegitimi­erung und der Ethnisieru­ng auch von einer antisemiti­schen.

 ?? BILD: MARTA KRAJINOVIC ?? aus Hannover gilt als einer der renommiert­esten Antisemiti­smusforsch­er. Er ist Professor für Grundlagen der Sozialwiss­enschaften in Göttingen. Zu seinen Publikatio­nen zählen „Kampf der Idee. Die Geschichte politische­r Theorien im Kontext“und...
BILD: MARTA KRAJINOVIC aus Hannover gilt als einer der renommiert­esten Antisemiti­smusforsch­er. Er ist Professor für Grundlagen der Sozialwiss­enschaften in Göttingen. Zu seinen Publikatio­nen zählen „Kampf der Idee. Die Geschichte politische­r Theorien im Kontext“und...

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