„Nicht nur antiisraelisch, sondern auch antisemitisch“
Der Antisemitismus-Forscher Samuel Salzborn über die BDS-Kampagne und Israel
FRAGE: Haben wir in Deutschland 70 Jahre nach dem Nationalsozialismus noch ein Antisemitismus-Problem? SALZBORN: Ja, das haben wir. Wenn man Antisemitismus versteht wie die Nationalsozialisten, also als etwas, das rassistisch begründet wurde und in die Vernichtung, die Shoa, geführt hat, dann sind das sicher nur noch relativ wenige Personen, die ähnliche Vorstellungen noch heute vertreten. Das betrifft das neonazistische, rechtsextreme Spektrum. Aber Antisemitismus hat sich schon vor dem Nationalsozialismus auch anders artikuliert, und vor allem danach tut er das. In der Antisemitismus-Forschung spricht man dann zum Beispiel vom „SchuldabwehrAntisemitismus“, der die Verantwortung der Deutschen für die Vernichtung der Juden abwehrt. In einer weiteren Variante wird Antisemitismus über einen Umweg kommuniziert. Man hat noch immer das gleiche antisemitische Ressentiment, äußert es aber in einer nicht öffentlich diskreditierten Form. Das ist dann zum Beispiel die Variante des gegen Israel gerichteten Antisemitismus. FRAGE: Letzteres ist ja ein schmaler Grat. Wo sehen Sie die Grenze zwischen legitimer Kritik an politischem Handeln in Israel und Antisemitismus? SALZBORN: Aus meiner Sicht ist das weder ein schmaler Grat noch sonderlich schwierig zu differenzieren. Kritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie rational nachprüfbar ist. Sie ist auch bereit, die eigene Meinung zu revidieren, wenn sie mit Fakten oder besseren Argumenten konfrontiert wird. Antisemitismus ist das nicht. Antisemitismus ist wirklichkeitsresistent. Insofern ist die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel eine sehr einfache. Nur wird von vielen, die antisemitisch motiviert gegen Israel zu Felde ziehen, immer wieder gern behauptet, man könne Israel nicht kritisieren. Das Gegenteil ist der Fall, das haben auch zahlreiche Studien gezeigt. Mit der Behauptung, man könne Israel nicht kritisieren, weil man dann als Antisemit bezeichnet wird, schießt man sich zudem selbst ins Knie, weil es in aller Regel Antisemiten sind, die das behaupten. Und die wollen eben von vornherein ihre Ressentiments gegen Kritik imprägnieren. FRAGE: Jetzt kommt ein zweiter Begriff ins Spiel – Antizionismus. Ist das ein Synonym für Antisemitismus? SALZBORN: Man muss verstehen, dass da Etiketten bemüht werden, wenn man behauptet, man sei ja gar nicht antisemitisch, sondern „nur“antizionistisch. Das ist eine Tarnstrategie, um der Klassifizierung als antisemitisch zu entgehen, die ja nach wie vor in der öffentlichen Auseinandersetzung mit vollem Recht eine Stigmatisierung der Position bedeutet. FRAGE: Antizionisten würden möglicherweise sagen, wir haben ja nichts gegen Juden, wir haben nur etwas gegen den Staat Israel… SALZBORN: Das ist zunächst häufig nicht zutreffend. Da werden oft die Taten einzelner Jüdinnen und Juden auf das Kollektiv hochgerechnet. Zudem kann man das eine nicht vom anderen trennen. Der Staat Israel ist auch als Folge und Reaktion auf den Nationalsozialismus als Schutzraum für Jüdinnen und Juden entstanden. Er ist nun mal im Zweifelsfall der einzige Ort, an dem sie Schutz vor Verfolgung finden. Wenn man diesen Schutzraum angreift und dann behauptet, man hätte nichts gegen Juden, dann ist das verlogen. FRAGE: Nun setzt sich die BDS-Kampagne vorgeblich für die Rechte der Palästinenser ein. Kritiker sagen, BDS habe antisemitische Züge. Wie schätzen Sie das ein? SALZBORN: Es ist zunächst eine internationale palästinensische Interessenkampagne. Der schließen sich viele Menschen auf der Welt an, die sicher in unterschiedlichem Umfang über den Charakter von BDS informiert sind. Möglicherweise sind da auch einige dabei, denen tatsächlich die Menschenrechte am Herzen liegen. Der Kern der Kampagne ist jedoch eindeutig und zweifelsfrei einer, der auf die Delegitimierung Israels zielt, der das Existenzrecht Israels de facto infrage stellt. Außerdem: Eine Boykott-Kampagne gegen einen demokratischen Staat richtet sich immer zuerst gegen die einzelnen, davon betroffenen Menschen. Der Einzelne in Israel wird also nicht dafür verantwortlich gemacht, was er tut, sondern dafür, was er aus Sicht der BDS-Kampagne ist. Das alles zusammengenommen, ist es eindeutig, dass man bei der BDS-Kampagne nicht nur von einer antiisraelischen Kampagne sprechen kann, sondern wegen der Delegitimierung und der Ethnisierung auch von einer antisemitischen.