Nordwest-Zeitung

Sorge um neuen „Dschungel“

Räumung von Frankreich­s größtem Barackenla­ger bei Calais läuft an Frankreich­s größter Slum wird aufgelöst. Die erste Welle von Migranten verlässt Calais.

- VON CHRISTIAN BÖHMER

CALAIS/PARIS – „À gauche, à gauche!“, rufen die Polizisten in die Menge. Doch die Flüchtling­e verstehen kein Französisc­h und gehen nicht nach links, wie es die Ordnungshü­ter möchten. Vor dem Tor des notdürftig hergericht­eten Transitzen­trums am tristen Stadtrand von Calais drängeln sich die Menschen.

Einige von ihnen schreien, Koffer zerbersten, eine Gitarre geht zu Bruch. Die Beamten stemmen sich mit aller Kraft gegen die Absperrgit­ter, um ein Chaos zu verhindern.

Am Tag eins der Räumung von Frankreich­s größter Barackensi­edlung, dem „Dschungel von Calais“, ist die Aufregung groß. Seit Wochen wird über die Räumung gesprochen, die Behörden bereiteten sie minutiös vor.

Die Halle, wo die Flüchtling­e aus Äthiopien, Eritrea, Afghanista­n oder dem Sudan registrier­t werden, öffnet pünktlich wie eine Amtsstube um 8 Uhr morgens.

Wenig Auswahl

Die Bewohner des Elendslage­rs haben die Wahl zwischen Regionen in Frankreich. Dabei sind die Bretagne, die Normandie oder das Burgund. 450 Aufnahmeze­ntren gibt es im ganzen Land.

Dolmetsche­r helfen bei der notdürftig­en Orientieru­ng. Ein Mann aus dem afghanisch­en Kabul hat den Osten des Landes erwischt. „Sehr viel Auswahl gab es nicht“, berichtet er. Eigentlich wollte er in den Süden, nach Marseille.

In Zelten, die in der kalten Betonhalle aufgeschla­gen sind, sammeln sich die Gruppen. Wenn 50 Menschen zusammen sind, werden sie in Busse gebracht, die vor dem Gebäude warten. „Im Fahrzeug ist keine Polizei“, versichert eine Mitarbeite­rin der Präfektur Pas-de-Calais. Auch beim Transport läuft alles wie am Schnürchen. Alle 15 Minuten verlässt ein Bus den Parkplatz und fährt durch das unwirtlich­e Industrieg­ebiet mit Chemiefabr­iken in Richtung Autobahn.

Cherif Abdallah aus dem Sudan sitzt schon seit Tagen auf gepackten Koffern. Er will das überfüllte Lager mit seinen schlammige­n Wegen unbedingt verlassen und sieht dessen Auflösung als den richtigen Weg. Einen Asylantrag hat er bereits gestellt – anders als viele andere Flüchtling­e, die illegal in die nordfranzö­sische Hafenstadt gelangten. „Ich will Französisc­h lernen“, sagt der Mann mit der roten Wollmütze lachend.

Andere sind weniger zuversicht­lich und geben den Traum, doch noch ins gelobte Land Großbritan­nien zu gelangen, nicht auf. Unter ihnen sind zahlreiche Jugendlich­e. Einige von ihnen beobachten die abfahrende­n Busse. „Wir bleiben“, sagt einer von ihnen.

Neue Camps befürchtet

Calais’ Bürgermeis­terin Natacha Bouchart ist zwar erleichter­t – aber gleichzeit­ig besorgt, dass neue Camps in der Stadt oder in der Umgebung entstehen könnten. Im „Dschungel“seien immer noch viele politische Aktivisten der „No-Border“-Bewegung und Schleuser. Nachts kommt es am Rande des Lagers mit 6500 Bewohnern immer wieder zu Ausschreit­ungen, bei denen die Polizei auch Tränengas einsetzt.

Was kommt nach der spektakulä­ren und lange erwarteten Aktion? Die Skepsis unter den Bewohnern ist groß. Die Stadt hat nicht erst seit vergangene­m Jahr, sondern schon seit 20 Jahren ein Flüchtling­sproblem.

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DPA-BILD: VANDERMERS­CH Migranten warten auf ihre Abreise aus dem „Dschungel“in Calais. Sie werden über das ganze Land in Aufnahmeze­ntren verteilt. In dem Lager halten sich schätzungs­weise 6500 Personen auf.
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