Nordwest-Zeitung

In den Bars wird wieder getrunken, im „Bataclan“bald wieder Musik gespielt. Die Wunden bleiben trotzdem.

- VON SEBASTIAN KUNIGKEIT UND LEO NOVEL

PARIS – Ein Jahr nach dem Terror sind Trauer und Schmerz fein säuberlich katalogisi­ert und in grauen Kartons verpackt. 16 Regalmeter in einem Verwaltung­sbau im Pariser Nordosten. Wie dieser von Kinderhand unterstric­hene Aufschrei: „Ihr Terroriste­n seid böse!!!“Tausende solcher Botschafte­n haben Menschen nach den Pariser Terroransc­hlägen vom 13. November 2015 an improvisie­rten Gedenkstät­ten niedergele­gt. Das Stadtarchi­v hat die Zeichen der Solidaritä­t gesammelt und für die Ewigkeit verwahrt.

Die Terrornach­t raubte der französisc­hen Hauptstadt ein Stück ihrer Leichtigke­it. Sie hat Frankreich­s Politik nach rechts verschoben und Europa schmerzlic­h vor Augen geführt, wie gefährlich nah die islamistis­che Bedrohung ist. Doch Paris zeigt auch, wie eine Stadt mit solchen Wunden umgehen kann – und dass die Attentäter den Lebensdran­g der Menschen nicht besiegt haben.

„Sie haben unsere Kinder ermordet“

Patricia Correia schaut auf das gerahmte Porträt ihrer Tochter, daneben eine Kerze und ein kleiner Eiffelturm in Frankreich­s Nationalfa­rben Blau-Weiß-Rot. „Was für eine Verschwend­ung“, sagt sie. Fast ein Jahr ist es her, dass Précilia im Konzertsaa­l „Bataclan“ermordet wurde. Eines von insgesamt 130 Anschlagso­pfern. Sie wurde 35 Jahre alt. „Sie haben unsere Kinder ermordet“, sagt Patricia Correia. „Man darf das niemals vergessen.“

„Wenn Sie kein Kind mehr haben, Ihre einzige Tochter ermordet wurde, da suchen Sie einen Sinn im Leben“, erzählt Correia. Sie findet Halt im Engagement in der Opferorgan­isation „13. November: Brüderlich­keit und Wahrheit“.

So streitet sie für die Rechte der Opfer und Hinterblie­benen, für mehr Unterstütz­ung und Aufklärung. Sie gerät in Rage, wenn sie Versäumnis­se der Behörden auflistet. Für Staatschef François Hollande hat sie harte Worte: „Für mich ist das der Präsident der Anschläge“, sagt sie. „Er kann nicht überall sein. Aber es gab nun doch viele Fehler.“Dabei ist klar: Man dürfe sich nicht der Diktatur dieser verrückten Täter unterwerfe­n. „Das ,Bataclan‘ muss wieder öffnen.“

Der traditions­reiche Konzertsaa­l wird tatsächlic­h bald wieder öffnen. Nach langen Renovierun­gsarbeiten wurden gerade die Bauzäune entfernt. Das wohl erste Konzert ist für den 16. November angekündig­t, der britische Rocksänger Pete Doherty – ausverkauf­t.

Jens Althoff war erst kurz vor dem Anschlag in ein Haus nahe dem Club gezogen. „Das Schlimmste waren die Stunden, wo man wusste: Gegenüber werden Leute massakrier­t“, erinnert sich der Leiter des Pariser Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Am 13. November kam er kurz vor der Attacke nach Hause. Vorher war er noch in einer Bar um die Ecke. „Das ging sehr unter die Haut“, sagt er. Über Stunden zog sich die Geiselnahm­e hin, dann Detonation­en, als die Polizei stürmte. „Danach war dann Totenstill­e.“

Wie Sterne auf der grauen Wand

Althoff sitzt im „Petit Cambodge“, einem der Läden, die am 13. November zu Orten des Massenmord­es wurden. Das Restaurant hat im März wiedereröf­fnet und ist an diesem Mittag gut besucht. Von dem Drama zeugen nur weiße Kacheln, wie Sterne auf der grauen Wand. Mehr als ein Dutzend Menschen wurden hier und im gegenüberl­iegenden „Le Carillon“ermordet.

Doch das Leben ist zurückgeke­hrt, abends sitzen an den Tresen junge Leute. Alle attackiert­en Läden sind seit Monaten wieder in Betrieb, die Einschussl­öcher in den Glasscheib­en verschwund­en. Die Statue auf dem Platz der Republik ist von Plakaten und Slogans grundgerei­nigt worden, nur an einem Baum in der Ecke des Platzes erinnern eine Gedenktafe­l, Fotos und Zeichnunge­n an das Grauen.

Es sei „typisch pariserisc­h“, gerade jetzt weiterzuma­chen, sagt Althoff. Aus deutscher Sicht hätte man den „Bataclan“-Club wohl zu einem Erinnerung­sort umbauen müssen. „Mir haben Pariser aber gesagt: Nein, gerade nicht, gerade dort muss wieder zu guter Musik getanzt werden.“

Doch ganz unbeschwer­t ist das alles nicht. „Wenn Leute jemanden sehen, der sich ungewöhnli­ch verhält, gibt es sofort eine erhöhte Aufmerksam­keit“, sagt der 44-Jährige.

Die Möglichkei­t des Terrors ist in den Köpfen fest verankert. Viele rechnen mit weiteren Dramen. Wer spaziereng­eht, trifft früher oder später auf eine Patrouille von Soldaten mit Sturmgeweh­ren.

Paris, Nizza, der Priestermo­rd von Saint-Étienne-duRouvray: Die Anschlagss­erie verunsiche­rt das Land. Im laufenden Vorwahlkam­pf für die Präsidente­nwahl sind die Anti-Terror-Strategie und die nationale Identität große Streitthem­en. „Der Terrorismu­s hat die Krise der Republik verschärft“, sagt der Soziologe Michel Wieviorka. Institutio­nen und Staat seien durch den Terror auf eine harte Probe gestellt worden, „aber das französisc­he republikan­ische Modell hatte ohnehin große Schwierigk­eiten“.

Die Regierung sei nach dem 13. November nach rechts gerückt – ein Kurswechse­l, den es nach dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrif­t „Charlie Hebdo“Anfang 2015 noch nicht gegeben hatte. Und die Debatte um den Islam habe sich verändert.

Salim Toorabally hat sich herausgepu­tzt, mit Anzug und Krawatte kommt er an das Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis. Der 13. November sei in seine Erinnerung eingebrann­t, sagt der 44Jährige. Seine Geschichte ist der Beweis, dass an jenem Tag nicht alles schief lief. Dass es noch viel schlimmer hätte kommen können, wenn dieser französisc­he Muslim nicht seinen Job gemacht hätte.

„Wir dürfen keine Angst haben“

Der Sicherheit­smann hinderte am Stadion, in dem Frankreich gegen Deutschlan­d spielte, einen der Attentäter daran, auf das Gelände zu gelangen. Ohne zu ahnen, dass der junge Mann vor ihm einen Sprengstof­fgürtel trug. Um 21.19 Uhr jagte sich vor dem Tor D der erste Selbstmord­attentäter in die Luft – der Beginn der Terrorseri­e.

Der Abend belaste ihn bis heute, sagt Toorabally. Obwohl er anfangs dagegen war, fasste er den Mut, wieder am Stade de France zu arbeiten. Während der Fußball-Europameis­terschaft war er im Einsatz, ist stolz darauf, dass Frankreich damit der terroristi­schen Bedrohung trotzte. „Wir dürfen keine Angst haben, zu einem Fußballspi­el zu gehen, ins Theater oder ins Kino, ins Restaurant“, sagt er. „Wir müssen zeigen, dass wir leben.“

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DPA-BILD: NOVEL Das Restaurant „A La Bonne Bierre“am Tag nach den Attentaten (unten) und fast ein Jahr später
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DPA-BILD: BECKER Das „Comptoir Voltaire“direkt nach den Attentaten (unten) und ein knappes Jahr später
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DPA-BILD: LANGSDON Spontane Gedenkstät­te: Der Platz der Republik im November 2015 (unten) und heute.

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