In den Bars wird wieder getrunken, im „Bataclan“bald wieder Musik gespielt. Die Wunden bleiben trotzdem.
PARIS – Ein Jahr nach dem Terror sind Trauer und Schmerz fein säuberlich katalogisiert und in grauen Kartons verpackt. 16 Regalmeter in einem Verwaltungsbau im Pariser Nordosten. Wie dieser von Kinderhand unterstrichene Aufschrei: „Ihr Terroristen seid böse!!!“Tausende solcher Botschaften haben Menschen nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015 an improvisierten Gedenkstätten niedergelegt. Das Stadtarchiv hat die Zeichen der Solidarität gesammelt und für die Ewigkeit verwahrt.
Die Terrornacht raubte der französischen Hauptstadt ein Stück ihrer Leichtigkeit. Sie hat Frankreichs Politik nach rechts verschoben und Europa schmerzlich vor Augen geführt, wie gefährlich nah die islamistische Bedrohung ist. Doch Paris zeigt auch, wie eine Stadt mit solchen Wunden umgehen kann – und dass die Attentäter den Lebensdrang der Menschen nicht besiegt haben.
„Sie haben unsere Kinder ermordet“
Patricia Correia schaut auf das gerahmte Porträt ihrer Tochter, daneben eine Kerze und ein kleiner Eiffelturm in Frankreichs Nationalfarben Blau-Weiß-Rot. „Was für eine Verschwendung“, sagt sie. Fast ein Jahr ist es her, dass Précilia im Konzertsaal „Bataclan“ermordet wurde. Eines von insgesamt 130 Anschlagsopfern. Sie wurde 35 Jahre alt. „Sie haben unsere Kinder ermordet“, sagt Patricia Correia. „Man darf das niemals vergessen.“
„Wenn Sie kein Kind mehr haben, Ihre einzige Tochter ermordet wurde, da suchen Sie einen Sinn im Leben“, erzählt Correia. Sie findet Halt im Engagement in der Opferorganisation „13. November: Brüderlichkeit und Wahrheit“.
So streitet sie für die Rechte der Opfer und Hinterbliebenen, für mehr Unterstützung und Aufklärung. Sie gerät in Rage, wenn sie Versäumnisse der Behörden auflistet. Für Staatschef François Hollande hat sie harte Worte: „Für mich ist das der Präsident der Anschläge“, sagt sie. „Er kann nicht überall sein. Aber es gab nun doch viele Fehler.“Dabei ist klar: Man dürfe sich nicht der Diktatur dieser verrückten Täter unterwerfen. „Das ,Bataclan‘ muss wieder öffnen.“
Der traditionsreiche Konzertsaal wird tatsächlich bald wieder öffnen. Nach langen Renovierungsarbeiten wurden gerade die Bauzäune entfernt. Das wohl erste Konzert ist für den 16. November angekündigt, der britische Rocksänger Pete Doherty – ausverkauft.
Jens Althoff war erst kurz vor dem Anschlag in ein Haus nahe dem Club gezogen. „Das Schlimmste waren die Stunden, wo man wusste: Gegenüber werden Leute massakriert“, erinnert sich der Leiter des Pariser Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Am 13. November kam er kurz vor der Attacke nach Hause. Vorher war er noch in einer Bar um die Ecke. „Das ging sehr unter die Haut“, sagt er. Über Stunden zog sich die Geiselnahme hin, dann Detonationen, als die Polizei stürmte. „Danach war dann Totenstille.“
Wie Sterne auf der grauen Wand
Althoff sitzt im „Petit Cambodge“, einem der Läden, die am 13. November zu Orten des Massenmordes wurden. Das Restaurant hat im März wiedereröffnet und ist an diesem Mittag gut besucht. Von dem Drama zeugen nur weiße Kacheln, wie Sterne auf der grauen Wand. Mehr als ein Dutzend Menschen wurden hier und im gegenüberliegenden „Le Carillon“ermordet.
Doch das Leben ist zurückgekehrt, abends sitzen an den Tresen junge Leute. Alle attackierten Läden sind seit Monaten wieder in Betrieb, die Einschusslöcher in den Glasscheiben verschwunden. Die Statue auf dem Platz der Republik ist von Plakaten und Slogans grundgereinigt worden, nur an einem Baum in der Ecke des Platzes erinnern eine Gedenktafel, Fotos und Zeichnungen an das Grauen.
Es sei „typisch pariserisch“, gerade jetzt weiterzumachen, sagt Althoff. Aus deutscher Sicht hätte man den „Bataclan“-Club wohl zu einem Erinnerungsort umbauen müssen. „Mir haben Pariser aber gesagt: Nein, gerade nicht, gerade dort muss wieder zu guter Musik getanzt werden.“
Doch ganz unbeschwert ist das alles nicht. „Wenn Leute jemanden sehen, der sich ungewöhnlich verhält, gibt es sofort eine erhöhte Aufmerksamkeit“, sagt der 44-Jährige.
Die Möglichkeit des Terrors ist in den Köpfen fest verankert. Viele rechnen mit weiteren Dramen. Wer spazierengeht, trifft früher oder später auf eine Patrouille von Soldaten mit Sturmgewehren.
Paris, Nizza, der Priestermord von Saint-Étienne-duRouvray: Die Anschlagsserie verunsichert das Land. Im laufenden Vorwahlkampf für die Präsidentenwahl sind die Anti-Terror-Strategie und die nationale Identität große Streitthemen. „Der Terrorismus hat die Krise der Republik verschärft“, sagt der Soziologe Michel Wieviorka. Institutionen und Staat seien durch den Terror auf eine harte Probe gestellt worden, „aber das französische republikanische Modell hatte ohnehin große Schwierigkeiten“.
Die Regierung sei nach dem 13. November nach rechts gerückt – ein Kurswechsel, den es nach dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“Anfang 2015 noch nicht gegeben hatte. Und die Debatte um den Islam habe sich verändert.
Salim Toorabally hat sich herausgeputzt, mit Anzug und Krawatte kommt er an das Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis. Der 13. November sei in seine Erinnerung eingebrannt, sagt der 44Jährige. Seine Geschichte ist der Beweis, dass an jenem Tag nicht alles schief lief. Dass es noch viel schlimmer hätte kommen können, wenn dieser französische Muslim nicht seinen Job gemacht hätte.
„Wir dürfen keine Angst haben“
Der Sicherheitsmann hinderte am Stadion, in dem Frankreich gegen Deutschland spielte, einen der Attentäter daran, auf das Gelände zu gelangen. Ohne zu ahnen, dass der junge Mann vor ihm einen Sprengstoffgürtel trug. Um 21.19 Uhr jagte sich vor dem Tor D der erste Selbstmordattentäter in die Luft – der Beginn der Terrorserie.
Der Abend belaste ihn bis heute, sagt Toorabally. Obwohl er anfangs dagegen war, fasste er den Mut, wieder am Stade de France zu arbeiten. Während der Fußball-Europameisterschaft war er im Einsatz, ist stolz darauf, dass Frankreich damit der terroristischen Bedrohung trotzte. „Wir dürfen keine Angst haben, zu einem Fußballspiel zu gehen, ins Theater oder ins Kino, ins Restaurant“, sagt er. „Wir müssen zeigen, dass wir leben.“