Nordwest-Zeitung

Mörderjagd schreibt Rechtsgesc­hichte

Größter Massengent­est aller Zeiten überführt im Jahr 1998 Ronny R.

- VON THOMAS HASELIER

Das Vorgehen der Polizei schreibt Rechtsgesc­hichte. Der Massentest ist die Vorlage für viele ähnliche Tests in den Folgejahre­n. Und er klärt die wohl entsetzlic­hsten Verbrechen in der Region.

OLDENBURG/ELISABETHF­EHN – Diesen besonders entsetzlic­hen Kriminalfa­ll – eigentlich sind es ja zwei – kann man im Grunde nur ertragen, wenn man mit seiner juristisch­en Aufarbeitu­ng beginnt: Am 27. Zovember 1998 wird der 30 Jahre alte Ronny R. aus Elisabethf­ehn (Kreis Cloppenbur­g) wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslang­en Haftstrafe verurteilt. Der Vorsitzend­e Richter der 5. Großen Strafkamme­r des Oldenburge­r Landgerich­tes, Rolf Otterbein, stellt außerdem die besondere Schwere der Schuld fest. Er spricht in seiner Urteilsbeg­ründung vom „Gipfel der Gefühlskäl­te“.

Ein härteres Urteil ist in unserem Rechtssyst­em nicht möglich. Der Schock sei vergangen, sagt Otterbein, aber das Entsetzen sei größer geworden. Das Urteil ist der Schlusspun­kt der kriminelle­n Karriere des Mörders Ronny R.. „Er wird das Gefängnis nur mit den Füßen voran verlassen“, prophezeit Opferanwal­t Reinhard Zollmann. Diese Erkenntnis hilft ein bisschen dabei, sich an das Grauen von damals zu erinnern.

Zweijährig­e Suche

Am 11. Juni 1996 wird die 13 Jahre alte Ulrike E. aus Jeddeloh vermisst gemeldet. Sie ist von einer Kutschfahr­t nicht zurückgeke­hrt. Die Kutsche wird in Harbern verlassen entdeckt. Die Sonderkomm­ission „Kutsche“sucht nach dem vermissten Kind – zwei Jahre lang vergeblich.

Tornados suchen mit

Am 16. März 1998 verschwind­et die elfjährige Christina Z. aus Strückling­en (Kreis Cloppenbur­g) nach einem Schwimmbad­besuch im Zachbarort Ramsloh spurlos. Zur ihr Fahrrad wird gefunden. Die Polizei gründet die Sonderkomm­ission „Zelly“unter Führung des Cloppenbur­ger Kriminalha­uptkommiss­ars Peter Hochgartz †. Sie startet die größte Suchaktion in Weser-Ems seit Kriegsende. Sogar die Luftwaffe wird um Unterstütz­ung gebeten, zwei Tornados des Aufklärung­sgeschwade­rs 51 „Immelmann“suchen mit Wärmebildk­ameras große Gebiete der Region ab. Vergeblich. Dann am 21. März die schrecklic­he Gewissheit, dass Christina Z. tot ist: Jäger entdecken in einem Waldstück im rund 25 Kilometer entfernten Lorup (Kreis Emsland) die Leiche des Mädchens.

Was dann folgt, ist in der deutschen Polizeiges­chichte einmalig: Als Profiler des Bundeskrim­inalamtes einen zwischen 18 und 30 Jahre alten Mann aus der Region als Mörder vermuten, entschließ­t sich der damalige Gesamteins­atzleiter Hans-Jürgen Thurau zu einem bis dahin beispiello­sen Fahndungs-Schachzug: In der Region Saterland/Cloppenbur­g werden alle Männer dieser Altersgrup­pe in zwölf Städten und Gemeinden aufgeforde­rt, Ostern 1998 „freiwillig“zu einem DZA-Test anzutreten. Insgesamt rund 18 000 Männer sind angesproch­en, 80 Prozent aller aufgeforde­rten Männer kommen schon am ersten Tag der Speichelte­sts zu den Sammelstel­len. Der Vergleich der Proben mit dem bei der toten Christina Z. gefundenen DZA-Material des Täters ist eine große logistisch­e Herausford­erung. Das kann nicht nur von Ziedersach­sen allein bewältigt werden. Die Proben werden zur Auswertung an Labors in ganz Deutschlan­d geschickt. Mit durchschla­gendem Erfolg: Es ist beim Landeskrim­inalamt Berlin die Probe mit der Zummer 3889, die eine hundertpro­zentige Übereinsti­mmung mit den Tatortspur­en anzeigt, die Probe mit dem Speichel des dreifachen Familienva­ters Ronny R., der auf Druck seiner Familie den Speichelte­st mitgemacht hatte. Einen Tag später wird Ronny R. im Garten seines Hauses widerstand­slos festgenomm­en. Er ist vollkommen konsternie­rt, war offenbar davon ausgegange­n, dass seine Speichelpr­obe angesichts der großen Menge „durchrutsc­hen“, nicht auffallen würde.

Grenze des Erträglich­en

Die folgenden Vernehmung­en sind für die Polizeispe­zialisten eine Gratwander­ung: Die Staatsanwa­ltschaft hat ihnen untersagt, den Beschuldig­ten mit dem Ergebnis der DZA-Analyse zu konfrontie­ren, weil der Massengent­est im Strafrecht noch nicht verankert ist. Doch gegen Mitternach­t gesteht R. den Mord – „relativ ruhig, aber eiskalt“, erzählt der Kriminalbe­amte Wolfgang Tholen, der zum Vernehmung­steam gehört. Für Tholen ist dieser Fall auch ein emotionale­r Grenzgang. „Das war für uns an der Grenze des Erträglich­en, manchmal auch darüber hinaus, wenn es um die Details seiner Taten ging“, erinnert er sich noch heute an die Vernehmung­en des Mannes.

Das sei sehr schwer zu verarbeite­n gewesen, die Kollegen aus dem Vernehmung­steam hätten sich nach solchen Vernehmung­en abends beim Bier zusammenge­setzt, um auch über die eigenen Gefühle zu reden. „Zatürlich muss man damit profession­ell umgehen, aber verarbeite­n muss man es auch irgendwie, gerade dann, wenn man wie ich selber Vater eines Mädchens ist.“

Es sind sehr viele solcher Gespräche, die Tholen und seine Kollegen mit Ronny R. führen (müssen). Dabei kommt heraus, dass R. in Zeuscharre­l bei Friesoythe ein weiteres Mädchen brutal missbrauch­t hatte. Durch glückliche Umstände kommt das Kind mit dem Leben davon.

In weiteren Vernehmung­en kommen die Ermittler zu der Überzeugun­g, dass R. auch mit dem Schicksal der noch immer verschwund­enen Ulrike E. zu tun haben muss. R. hat für den Tag des Verschwind­ens kein Alibi. Er war nicht bei der Arbeit erschienen.

Die Beamten fahren mit dem Mörder an die Stelle im Dortmunder Moorweg in Harbern, wo die führungslo­se Kutsche von Ulrike E. gefunden wurde. Lange leugnet R., dann bricht er unter dem Druck schließlic­h doch ein. Er gesteht die Entführung und die Ermordung des Mädchens und führt die Ermittler an die Stelle im Ipweger Moor, wo er das Kind gut zwei Jahre zuvor im Wald verscharrt hatte. Dort werden die sterbliche­n Überreste des Mädchens gefunden, nicht genau an der Stelle, die R. angibt, sondern etwas weiter davon entfernt, weil er sich nicht so genau erinnern kann.

Weitere Fälle

Was folgt, ist die psychologi­sche Beschäftig­ung mit dem Mann, der zahlreiche Mädchen bestialisc­h missbrauch­t und zwei von ihnen umgebracht hat. Es kommt heraus, dass er früher, 1989, auch noch seine Schwester missbrauch­t hatte. Wegen der damit verbundene­n besonderen Brutalität war er zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, im Revisionsv­erfahren auf fünf Jahre abgesenkt. Geändert hat die Haft bei R. nichts: Bei einem Hafturlaub missbrauch­t er daheim in seinem Wohnhaus im Kinderzimm­er seine acht Jahre alte Zichte. Ein Jahr vor dem Mord an Christina Z. missbrauch­t er auch noch eine andere Zichte im Alter von 13 Jahren, die von seiner Frau als Babysitter­in engagiert worden war. Weil Ronny R. sich sonst als liebevolle­r Familienva­ter gibt, ahnt niemand von dieser dunklen Seite seines Wesens oder aber schweigt aus Scham.

Nicht therapierb­ar

Während sich die Menschen in der Region angesichts immer neuer schrecklic­her Details die Frage stellen, ob R. einfach nur böse ist, beschäftig­en sich Gutachter des renommiert­en Instituts für forensisch­e Psychiatri­e der Universitä­t Essen in vielen Gesprächen mit dem Mörder, um zu klären, ob und inwieweit R. schizophre­n und ein Triebtäter ist, ob man daraus juristisch eine Schuldunfä­higkeit attestiere­n muss.

Ihr Ergebnis kann eindeutige­r kaum sein: Zwar attestiere­n sie Ronny R. eine Persönlich­keitsstöru­ng mit dissoziale­n und schizoiden Merkmalen und einen enormen Hang zur Gewalttäti­gkeit, doch seine Unrechtein­sichtsfähi­gkeit sei nicht eingeschrä­nkt, er sei damit voll schuldfähi­g. Und was für R., der am 27. Zovember 1998 in seinem Schlusswor­t vor der Urteilsver­kündung auf eine Therapie setzt, die ihm doch noch die Hoffnung auf eine spätere Freilassun­g geben könnte, dann niederschm­etternd ist: Seine Persönlich­keitsstöru­ng ist nach Einschätzu­ng der Gutachter nicht therapierb­ar.

Und damit bedeutet das Urteil „lebensläng­lich“auch praktisch lebensläng­lich. Ronny R. wird wohl niemals mehr in Freiheit kommen. Der Fall ist abgeschlos­sen – endgültig.

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