Das Loch als Chance zur kreativen Problemlösung
Löcher in der Kleidung sind nicht immer unerwünscht, weiß Gabriele Wundram
OLDENBURG/LR – Die Situation ist so bekannt wie traumatisch: Man bückt sich tief oder geht in die Knie, um etwas aufzuheben, und das unangenehme Geräusch von reißendem Stoff kündet davon, dass aus dem Urlaub ein paar Pfunde mehr als gedacht mitgebracht wurden – und dass jede weitere Sekunde im öffentlichen Raum jetzt zu einem Spießrutenlauf für das Selbstbewusstsein wird.
Mütter kennen die Problematik des textilen Materialversagens vor allem von den Hosenbeinen ihrer Kinder, Jackett-Träger von den Ärmeln ihres Lieblings-Outfits. Das Ergebnis ist in allen Fällen das Gleiche: Ein Loch klafft dort, wo eigentlich keins hingehört.
Wer mit der Nähnadel eher Gefahr läuft, sich ernsthaft zu verletzen, bringt das Kleidungsstück in eine Änderungsschneiderei. Wer sich mehr Textilkompetenz zutraut, kann sich beispielsweise bei Gabriele Wundram und Tiene Reimann Hilfe und Arbeitsmaterial holen. Seit 28 Jahren betreiben sie das Stoffund Kurzwarengeschäft „Tuchfühlung“, seit 10 Jahren in der Nadorster Straße.
„Ein Loch ist immer auch eine Möglichkeit, kreativ mit dem Problem umzugehen“, sagt Gabriele Wundram. „Not macht erfinderisch.“So könne man ein Loch in der Hose normal flicken, in dem man es mit einem Stück gleichen Stoffs unterlegt, man könnte aber zum Beispiel auch eine Tasche darauf nähen. „Mit ein bisschen Fantasie kann man den Charakter eines Kleidungsstücks völlig verändern.“Diese Herangehensweise hat für die Textil-Expertin auch eine psychologische Komponente. „Ein kaputtes Kleidungsstück wird oft auch mit innerer Leere verbunden. Und wenn es einem schlecht geht, hilft auch Kreativität“, sagt Wundram.
Oft kommen auch Disziplinen zum Vorschein, die fast als ausgestorben galten, wie das Stopfen von Socken. Wo die kurzlebige Fußwäsche für wenige Euro jederzeit neu gekauft werden kann, kann die Als Händlerin für Stoffe und Kurzwaren ist Gabriele Wundram auch Expertin für Löcher im Stoff.
Fertigkeit des Reparierens schnell in Vergessenheit geraten. „Viele Menschen machen das noch“, sagt Gabriele Wundram. „Mich eingeschlossen.“Sie verbindet damit Kindheitserinnerungen. „Bei uns in der Familie war mein Großvater dafür zuständig. Er hat sich das Radio angemacht und dann in aller Ruhe alle kaputten Socken gestopft.“
Der häufigste Fehler beim Nähen besteht darin, zu dicke Nadeln zu verwenden. „Dicke Jeans-Nadeln schädigen feine Gewebe mehr als sie reparieren können“, sagt die Fachfrau.
„Da ist das nächste Loch nur eine Frage der Zeit.“
Ein Frage der Jahreszeit ist vor allem der biologische Lochfraß. Wenn im Herbst wieder die Winterkleidung in den Schrank kommt, machen sich die Motten über die neue Kollektion her. Sie legen ihre Eier in dem Stoff ab und die Larven fressen die Fasern. Früher verhinderten Mottenkugeln die Freßorgien der Falterbrut. „Aber solche Chemiekeulen sind nicht mehr zeitgemäß“, sagt Wundram. „Patschuli, Lavendel und Zedernholz sind sehr gute natürliche Mittel. Ihr intensiver Geruch stößt Motten ab.“
Andere Löcher sind genau dort, wo sie hingehören: Knopflöcher etwa. Warum sie bei Männerhemden links und bei Damenblusen rechts liegen, vermag auch Gabriele Wundram nicht zu sagen. „Ich habe gelesen, dass das mit dem Stillen zusammenhängt“, sagt sie. „Das klingt romantisch, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es kein bisschen plausibel.“Die bekannteste Theorie besagt, dass die spiegelverkehrte Anordnung in früheren Zeiten den Zofen höhergestellter Damen das Be- und Entkleiden ihrer Dienstherrinnen vereinfachte. Daraus entwickelte sich die umgekehrte Knopfleiste als Statussymbol.
Auch Löcher als modisches Accessoire gibt es noch, etwa in Jeans. Zum Unverständnis von Gabriele Wundram: „Ich hatte ich einen Kunden, der feststellte, dass das im Winter sehr zugig ist und sie dann lieber geflickt haben wollte“, erzählt sie schmunzelnd. „Da hat er ein Designmerkmal teuer bezahlt und später drauf gezahlt, um es loszuwerden. Vielleicht legt er sein Geld ja heute für heile Hosen an.“