Chaos löst die erste Schockstarre ab
Viele Fragen offen nach Scheitern 5on Rot/Grün – Neuwahltermin 5öllig unklar
Der Übertritt einer Grünen-Abgeordneten überrascht alle. Die Grünen sind frustriert.
HANNOVER – Die Bombe platzt um 10.45 Uhr. In der Minute geht bei Grünen-Fraktionschefin Anja Piel die schriftliche Nachricht der Abgeordneten Elke Twesten aus dem Wahlkreis Rotenburg/Wümme ein. Die 54-Jährige erklärt den sofortigen Austritt aus der Grünen-Fraktion und aus der Partei. Wenig später gibt sie den Eintritt in die CDU und den Antrag, in die CDU-Fraktion aufgenommen zu werden, bekannt. Fassungslos und wie versteinert nimmt Piel die Botschaft entgegen. Minuten später weiß auch die Staatskanzlei mit Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) Bescheid: Die rot-grüne Regierungsmehrheit im Landtag ist mit dem Wechsel der Überläuferin Twesten geplatzt. Eine Sensation. In den nächsten Stunden herrschen Hektik und Chaos. Klar ist, Rot/Grün ist am Ende. Aber wie geht’s weiter?
Die Grünen reagieren wie paralysiert. Niemand kann sich den Schritt erklären. Nicht ein Mal hat die unauffällige frauenpolitische Sprecherin das Gespräch gesucht mit der Fraktion oder der Partei. Kein Tipp. Kein Hilferuf. Keine Warnung. Später wird Twesten ihre Motive mit hektischen Bewegungen, extrem angespannt und nervösen roten Flecken im Gesicht erklären. Für die Abgeordnete, seit 2008 im Landtag und zwei Jahre sogar stellvertretende Grünen-Landesvorsitzende, brachte der Streit um eine Direktkandidatur in Rotenburg/ Wümme „das Fass zum Überlaufen“, wie sie formuliert. Die Grünen hatten an ihrer Stelle eine neue Direktkandidatin im Wahlkreis Rotenburg aufgestellt. Ein Grund dafür war möglicherweise, dass Twesten sich in den Augen etlicher Grüner zu offen für eine Koalition mit der CDU gezeigt hatte. Von einem „längeren Entfremdungsprozess“redet Twesten, seit 20 Jahren bei den Grünen, selbst.
Vielleicht hätten die Grünen bei CDU-Fraktionschef Björn Thümler (Berne) nachfragen sollen. Thümler fungierte seit dem Frühjahr als Beichtvater und Ratgeber. Erst spät kam CDU-Chef Bernd Althusmann dazu. Versprechen sollen der Überläuferin keine gegeben worden sein, versichern Thümler und Althusmann. Twesten selbst denkt laut über ein „Bundestagsoder Europamandat“nach. Die Belohnung? Am Dienstag entscheidet die CDU-Fraktion über eine Aufnahme. Manche Frau zeigt sich wenig begeistert. „Wo wollen wir mit Twesten auftreten im Wahlkampf?“, heißt es. Das Publikum liebt bekanntlich den Verrat, aber nicht den Verräter. Jetzt müssen in aller Eile sämtliche Landtags- und Untersuchungsausschüsse neu zusammengesetzt werden.
Selbst die vorbereitete Union bringt das Ende von Rot/Grün ins Schlingern. Gemeinsam mit Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU) werden Termine und verfassungsrechtliche Vorgaben für eine Neuwahl gewälzt, die Thümler als erster ins Spiel bringt. Rasch wird klar, dass die CDU darauf verzichtet, gemeinsam mit der FDP – wenn diese überhaupt mitziehen würde – mittels Misstrauensvotum Ministerpräsident Weil abzuwählen und Althusmann als neuen Ministerpräsidenten bis zum eigentlichen Landtagswahltermin am 14. Januar zu etablieren. Das Risiko scheut die Union.
In einer Schaltkonferenz wird auch in der SPD schnell klar, dass an Neuwahlen kein Weg vorbeiführt. „Damit können wir unsere Basis mobilisieren“, heißt es nach dem ersten Schock. Begriffe wie „Verrat“, „Intrige“, „Skandal“und „verletzte Eitelkeit“machen schnell die Runde. Unfassbar, so SPD-Politiker, dass die CDU bei diesem Spiel mitmache. Kann die SPD damit im Wahlkampf punkten? Wirklich? Mitglieder der Landesregierung machen sich ganz andere Gedanken. „Dann kann ich ja bald meinen Dachboden ausbauen“, meint jemand mit Blick auf die Wahlchancen von Rot/ Grün. Andere erwarten, dass die Grünen vom Wähler abgestraft werden.