Nordwest-Zeitung

LAUTLOSE NACHT

- ROMAN VON ROSAMUND LUPTON Copyright © 2016 dtv Verlagsges­ellschaft mbH & Co. KG München

104. FORTSETZUN­G

Er liest die Tweets. Das Licht vom Bildschirm spiegelt sich in seiner Schneebril­le. Ich hoffe, es kommen noch viel mehr Tweets, dann liest er vielleicht weiter und schießt nicht auf mich, und Mum und Dad können mich vielleicht retten.

Er wirft mein Notebook in den Schnee. Ich will die Tweets lesen, aber er schießt ganz oft aufs Notebook, und mein Armband vibriert und vibriert und vibriert, bis mein Arm kribbelt wie eingeschla­fen und mein Notebook nur noch aus tausend winzigen Splittern wie Sommerspro­ssen im Schnee besteht.

Ich glaube, jetzt erschießt er mich.

Aber er wendet sich von mir ab.

Das Licht seiner Taschenlam­pe wird kleiner und kleiner. Es ist nur noch ein winziger Punkt, und jetzt ist es gar nicht mehr da. Er ist weg! Ich glaube, er hat gesehen, dass die Tweets wie die Federn eines Gerüchts sind und er sie niemals alle wieder einsammeln kann.

Jetzt hab ich nicht einmal mehr das Licht von meinem Notebook.

Schwarze, schwarze Finsternis.

Ich denke daran, wie die Nacht alle Tage verschluck­t, und das gefällt mir, weil das so ähnlich ist wie der Wal, der Rabe verschluck­t, und mittendrin in dem dunklen Wal bestehen Herz und Seele des riesigen Tiers aus einem tanzenden Mädchen.

Ein Licht kommt auf mich zu, es hüpft auf und ab, weil derjenige, der es trägt, rennt. Es sind Mum und Dad.

Dad beugt sich zu mir runter und nimmt mich in den Arm, und Mum zieht sich ihre großen Handschuhe aus und schiebt sie mir über die Hände. Hinter ihrer Schneebril­le sind gefrorene Tränen. Sie bläst ihren Atem in die Handschuhe an meinen Händen.

Ich will ihnen sagen, dass meine Worte stärker waren als seine Schüsse.

Und ich will ihnen sagen, dass die zwitschern­den Dreilappgl­ockenvogel­küken dafür sorgen, dass die ganze Welt von den armen Leuten in Anaktue und den Tieren erfährt und uns Hilfe schickt.

Im Licht von Dads Taschenlam­pe fallen weiße Schneefloc­ken vom Himmel, und ich denke, dass das, was die Leute mir schreiben, überhaupt nicht wie Federn ist, sondern wie Schneefloc­ken, und sie haben uns schon gefunden und sind überall um uns herum.

Schnee macht kein Geräusch, wenn er fällt.

Wir warten hier, wir drei, ganz dicht beieinande­r, Ewigkeiten lang. Über uns sind Sterne, und ich denke an die kleinen Vogelbabys, die die Sterne anschauen, damit sie später nach Hause finden. Am Himmel ist ein kleines neues Licht aufgetauch­t, wie eine langsame Sternschnu­ppe, die sich auf uns zubewegt. Aber ich weiß, so was wie Sternschnu­ppen gibt es gar nicht!

Mum bläst immer noch ihren Atem in meine Handschuhe, lebendig und warm.

Ein Schneeball bewegt sich, dann noch einer und noch einer. Es sind Schneehase­n, die über den Schnee in die Dunkelheit davonhüpfe­n.

Ich spüre meine Finger. Ich habe wieder eine Stimme.

In dieser Not, diesem Übel wird uns

Die letzte Reinheit der Kenntnis des Guten zuteil.

Wallace Stevens

– Ende –

Der Roman „Lautlose Nacht“von Rosamund Lupton ist bei dtv (München, 328 Seiten, 14,90 Euro) erschienen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany