Kein Opfer soll vergessen werden
Susanne Muhle erforscht Bau der Berliner Mauer und seine Folgen – Lehrer in Vechta gibt Anstoß
An diesem Wochenende jährt sich der Tag, an dem in Berlin der Bau der Mauer begann: der 13. August 1961. Susanne Muhle aus Lohne arbeitet in der Gedenkstätte Berliner Mauer.
BERLIN/LOHNE – Susanne Muhle steht auf einer Aussichtsplattform und beobachtet die Besucher der Gedenkstätte Berliner Mauer auf der anderen Straßenseite. Eine Junggesellentruppe ist unterwegs, ein paar Familien und auffällig viele junge Leute. „Weil sie sehen wollen, wie das geteilte Berlin aussah“, sagt die 36Jährige. Und das können sie nur dort: Die Bernauer Straße ist der einzige Ort, wo man noch heute sehen kann, dass die Mauer mehr war als nur eine Mauer. „Tiefenstaffelung“nennt das Muhle, „Todesstreifen“sagt der Volksmund.
80 Meter breiter Streifen
Besonders deutlich wird dies bei einem kleinen Rest des ehemaligen Grenzstreifens, gerade mal 80 Meter breit, der für Besucher unbegehbar, aber von oben einsehbar ist. Dieser Streifen ist eingefasst von zwei neuen Stahlwänden. Dazwischen: die Mauer auf der Westseite mit ihrer charakteristischen Rolle oben, die etwas kleinere Variante auf der Ostseite sowie Wachtturm, Patrouillenweg und Lichttrasse. So sah es dort bis Forschungsarbeit am ehemaligen Todesstreifen: Susanne Muhle in der Gedenkstätte Berliner Mauer
1989 aus, dem Jahr, in dem die Mauer fiel. Fast alles ist erhalten geblieben.
Dieser Streifen ist eine zentrale Station der Gedenkstätte, die sich insgesamt auf einer Strecke von 1,4 Kilometern entlang der ehemaligen Grenze an der Bernauer Straße erstreckt. Die meisten Besucher schlendern Nicht zu übersehen: das große Bild an einer Hauswand von der Flucht eines Soldaten über die Mauer
durch das parkähnliche Gelände zwischen Brunnenstraße und Nordbahnhof. Man kann den Ort einfach nur auf sich wirken lassen. Oder sich den Stationen mit Texten, Fotos und Filmen nähern. Oder sich ein Tour-Angebot auf sein Smartphone laden.
Wohl niemand übersieht ein mehrere Meter hohes Foto an einer Brandwand an der Brunnenstraße, viele kennen es aus den Medien: Ein Grenzpolizist der DDR springt über Stacheldraht, in Uniform, die Maschinenpistole geschultert. Conrad Schumann floh am 15. August 1961 in den Westen, zwei Tage nach der Abriegelung. „Wenn man Besuchergruppen fragt: Haben Sie schon mal etwas von der Bernauer Straße gehört, dann kommt oft erst mal Kopfschütteln“, erzählt Muhle. „Hält man dann dieses Bild hoch, sagen alle sofort: Das war hier?“
1999 wurde das Dokumentationszentrum eröffnet, in dem Susanne Muhle heute arbeitet. Die gebürtige Lohnerin war maßgeblich beteiligt an der aktuellen Ausstellung über die Mauer, die seit 2014 zu sehen ist.
Alles begann am Gymnasium Antonianum in Vechta, mit dem Vortrag eines Mitarbeiters der Stasi-Unterlagenbehörde über die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Ihr Geschichtslehrer hatte ihn bei einer Lehrerfortbildung kennengelernt und eingeladen. Das Thema war neu für Susanne Muhle, „aber auch sehr, sehr spannend“.
Weiße Rosen
Sie behielt es im Hinterkopf, auch während ihres Studiums in Münster, und bemühte sich um ein Praktikum bei der Stasi-Unterlagenbehörde. Mit Erfolg. Dort wurde sie aufmerksam auf den „IM Donner“, der für die Stasi Entführungen und Anschläge im Westen verübte, „ein Ausnahmeagent, der unter anderem die Agentenkartei des amerikanischen Geheimdienstes in Würzburg geraubt hat“.
Von diesem „IM Donner“, der Thema ihrer Magisterarbeit wurde, war es nur noch ein kleiner Schritt zum „Menschenraub und zu verzweifelt und denkt, wie kriege ich das alles wissenschaftlich untersucht, aber auch so erzählt, dass es Menschen berührt“.
Bei ihrer Arbeit für die Stiftung Berliner Mauer steht sie vor einer ähnlichen Aufgabe. Wie vermittelt man Geschichte? Wie verortet man das individuelle Schicksal im größeren politischen Kontext? Auf diese Fragen sucht sie Antworten, zum Beispiel bei der Planung einer Ausstellung zur Geschichte des Kalten Krieges, die 2022 in einem neuen Haus am Checkpoint Charlie eröffnet werden soll – ihr aktuell größtes Vorhaben.
139 Menschen – Stand heute – ließen allein in Berlin bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden, ihr Leben, 131 Zivilisten und acht Grenzsoldaten. An die zivilen Opfer erinnert an der Bernauer Straße das „Fenster des Gedenkens“. Unter den Fotos der Opfer stehen die Namen und Lebensdaten. Ein Nachname fehlt. Holger, ein 15 Monate altes Baby, fing beim Fluchtversuch in einer Transportkiste an zu weinen, erzählt Muhle. „Die Mutter hat ihm den Mund zugehalten und wusste nicht, dass er erkältet ist und keine Luft durch die Nase bekommt.“Die Flucht war ihnen gelungen, doch ihr Kind war tot. An diesem Sonntag, am Jahrestag des Mauerbaus, werden Mitarbeiter der Gedenkstätte wieder unter jedes Foto eine weiße Rose legen.