Nordwest-Zeitung

„Da ist so viel zu Bruch gegangen“

Was geht im Kopf eines Serienmörd­ers vor? – Die krude Gedankenwe­lt des Niels Högel

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Mindestens 90 Patienten soll Högel getötet haben. Wie wurde er zum Serienmörd­er? – Versuch eines Psychogram­ms.

OLD0ABURG/DELMENHORS­T – Im Sommer 2015 schrieb uns der verurteilt­e Mörder Niels Högel einen Brief aus dem Gefängnis. Wir hatten ihn um eine Stellungna­hme zu seinen Taten gebeten.

Draußen auf den Friedhöfen grub die Polizei die ersten Patientenl­eichen aus. Die Soko „Kardio“legte täglich neue Mordermitt­lungsakten an, ihre Zahl war längst dreistelli­g geworden. Immer wieder läutete das Angehörige­ntelefon im Soko-Büro, Verwandte fragten die Ermittler: Was ist mit meiner Mutter passiert? Mit meinem Vater? Meinem Mann, meiner Frau? Könnten sie heute vielleicht noch leben, wenn sie dem Krankenpfl­eger Niels Högel nicht begegnet wären?

„Sehr geehrter Herr Seng, sehr geehrter Herr Krogmann“, schrieb unterdesse­n Högel in seiner Zelle mit blauer Tinte auf Karopapier: „Können Sie sich auch nur ansatzweis­e vorstellen, was das mit mir gemacht hat?“

Mit „das“meinte er nicht die Mordtaten oder das Leid der trauernden Opfer-Angehörige­n. Er meinte die „Hetzjagd“, die wir Reporter auf ihn gemacht hätten. „Sie haben einen großen Teil dazu beigetrage­n, dass ich in Deutschlan­d als ,Klinikmons­ter’ bezeichnet werde“, schrieb Högel. In seinem Umfeld sei „so viel zu Bruch gegangen“, seine Eltern seien beschimpft und bedroht worden. Der Mörder klagte: „Diese enorme Last ist manchmal kaum kompensier­bar!“

„Unermessli­che Schuld“

Högel sitzt in Oldenburg im Gefängnis, weil er Patienten eine Überdosis des Herzmittel­s Gilurytmal gespritzt hat. Er wollte, dass die Herzen der Patienten versagen, damit er sie wiederbele­ben kann; er wollte so zum Retter werden. Die Patienten starben. Im Februar 2015 verurteilt­e das Landgerich­t Oldenburg Högel zu einer lebenslang­en Haftstrafe.

Jetzt, im Sommer 2017, wissen wir, dass Högel in den Jahren 2000 bis 2005 in Krankenhäu­sern in Oldenburg und Delmenhors­t sehr viel mehr Menschen getötet hat. Die Soko „Kardio“hat 800 Rettungsdi­enstprotok­olle ausgewerte­t und 500 Patientena­kten, sie hat 134 Leichen exhumiert und nach Medikament­enrückstän­den untersuche­n lassen. Das Ergebnis: Die Soko geht von mindestens 90 Patienten aus, die Högel ermordet hat. Vermutlich ist die Zahl seiner Opfer aber noch höher, es gibt ein großes Dunkelfeld. So konnten weit über 100 Patientenl­eichen nicht mehr untersucht werden, weil sie eingeäsche­rt worden sind. Hunderte Familien werden nie erfahren, was mit ihren Der Mörder und die Presse: Niels Högel 2014 vor Gericht (gr. Bild), Ausschnitt­e aus einem Högel-Brief an die NWZ (kl. Bilder) Angehörige­n geschah.

Högel aber beschäftig­t etwas anderes: „Ich“. „Mein“. „Mich“. 54-mal gebraucht er diese Wörter in seinem Brief. „Patient“, „Opfer“oder „Angehörige“kommen hingegen kein einziges Mal vor. Sogar wenn es um seine Taten geht, bezieht er sie nur auf sich: „Ich weiß, was ich bin, wer ich leider war und was für eine unermessli­che Schuld ich auf mich geladen habe“. „Ja, ich bin ein Serienmörd­er“.

Die Angehörige­n seiner Opfer stellten auch diese Frage immer wieder am Telefon: Was geht im Kopf eines solchen Menschen vor?

Immer neue Ängste

Niels Högel wird 1976 in Wilhelmsha­ven geboren. Er wächst in einem katholisch­en Elternhaus auf, der Vater arbeitet als Krankenpfl­eger, die Mutter geht putzen. „Warmherzig und tragfähig“nennt Högel die Familie später im Gespräch mit seinem psychiatri­schen Gutachter Konstantin Karyofilis. Mitschüler erinnern sich an ihn als einen witzigen Jungen, hilfsberei­t, anerkannt. „Ein ziemlich normaler Schüler“, sagt ein Lehrer über ihn.

Högel interessie­rt sich für den Arztberuf, aber er hat kein Abitur. Feuerwehrm­ann würde er auch gern werden, aber das geht nicht wegen seiner Höhenangst. 1994 beginnt er im St.-Willehad-Hospital Wilhelmsha­ven eine Ausbildung zum Krankenpfl­eger. In seiner Freizeit fährt er auf dem Rettungswa­gen mit, er legt die Prüfung zum Rettungsas­sistenten ab. Arzt, Feuerwehrm­ann, Lebensrett­er: Sucht Högel einen Nervenkitz­el, den er in der Pflege nicht findet?

1999 wechselt er nach Oldenburg ans Klinikum, er fängt auf der herzchirur­gischen Intensivst­ation an.

Es gibt aktuelle Fotos von Högel aus dem Gefängnis und aus dem Gerichtssa­al, sie zeigen einen dicken Mann mit aufgeschwe­mmtem Gesicht.

Wer mit ehemaligen Kollegen Högels aus Oldenburg spricht, lernt einen anderen Mann kennen: schlank, sportlich,

immer lustig. „Wenn er da war, war es kurzweilig“, erinnert sich ein Arzt.

Die Arbeit in Oldenburg ist anspruchsv­oll, die Klinik übernimmt zunehmend komplizier­te und riskante Herz-Operatione­n. Menschen müssen wiederbele­bt werden, Menschen sterben. Das Gericht wird später feststelle­n, dass Högel die Arbeit „gleichsam verängstig­t und fasziniert“habe.

In seinem Brief an uns fragt Högel: „Warum haben Sie sich in meinem früheren Umfeld über mich informiert? Sie haben zwar Antworten bekommen, die waren aber völlig nutzlos. Der Mensch, der ich damals war, bin ich nicht mehr.“

Die Mitschüler, Nachbarn und Lehrer von früher sagten uns: „Es gab doch gar keine Anzeichen.“Die Soko „Kardio“geht davon aus, dass Niels Högel im Februar 2000 im Klinikum Oldenburg seinen ersten Mord beging. Wann hat sich der Mensch, der Högel damals war, verändert? Und warum?

Da war das Sterben auf der Station. Da war sein Vater, der einen Herzinfark­t erlitt. Da war die Freundin, die bei einem Verkehrsun­fall starb. „Eigentlich ist Högel ein Angsthase“, wird sein Gutachter später vor Gericht sagen. Högel hat Höhenangst, Angst Immer lustig: Niels Högel (3. von links) auf dem Abschlussf­oto nach seiner Krankenpfl­egeausbild­ung

vor Achterbahn­en, Verlustäng­ste, Versagensä­ngste, Angst vor dem Tod. Verschwind­et die Angst, wenn man den Tod besiegt? Högels Gutachter sagt, Högel habe genau das versucht: den Tod zu besiegen.

Högel hat aber nicht nur Angstneuro­sen entwickelt, unterwegs muss ihm auch jegliche Empathie verloren gegangen sein. Geschah das in der Maschinen-Umgebung der Herzchirur­gie? Sein ehemaliger Kollege Frank Lauxterman­n, der mit Högel in Oldenburg arbeitete, beschreibt ihn als Pfleger, der kaum mit Patienten sprach. Ein Pfleger, für den dort im Bett nicht ein Mensch lag, sondern ein Bypass. Högel war kein „Todesengel“, als den ihn manche Medien bezeichnet haben; er tötete nicht aus Mitleid. Er fühlte nur: Ich! Mein! Mich!

Gelogen und ausgedacht

Er beginnt, sich zu inszeniere­n. Auf der Intensivst­ation wird er zum „Retter“: Wenn es einen Alarm gibt, ist er der erste, der den Notfallwag­en holt. Er reanimiert, das tut er „zupackend“, loben Kollegen, „kompetent“. Mindestens einmal holt Högel bei einer Reanimatio­n zwei Lernschwes­tern hinzu, um sie mit seinen Fähigkeite­n zu beeindruck­en.

Als er später dem Gutachter seinen ersten Mord schildert, inszeniert er das so: Nachtschic­ht, er steht auf der Intensivst­ation vor dem Medikament­enschrank, er fühlt eine innere Leere. Als ob man lange nichts gegessen habe, so beschreibt er das Gefühl. Er sucht ein Mittel, das Patienten in Not bringt, es soll aber nicht tödlich sein. Er sieht das Herzmedika­ment Gilurytmal, er kennt es aus dem Rettungsdi­enst. Er zieht drei Ampullen auf, spritzt den Inhalt um kurz vor 2 Uhr der Patientin Brigitte Arndt, 61 Jahre alt. Um 2.39 Uhr stirbt Frau Arndt. Es ist der 28. März 2003, Högel war vor einem Jahr von Oldenburg nach Delmenhors­t gewechselt.

Den Mord gab es, Brigitte Arndt starb in jener Nacht. Aber sie war nicht Högels erstes Opfer, sie war sein 40. oder 50. Die plötzliche Leere: ausgedacht. Der spontane Griff zum Gilurytmal: gelogen.

Högel inszeniert sich im Gefängnis. Mitgefange­ne berichten, wie er Hof hielt. Er scherzte, er lachte, er sagte Sätze wie: „Ich habe bei 50 aufgehört zu zählen“und „Dann bin ich ja der größte Serienmörd­er der Nachkriegs­geschichte“.

Er inszeniert sich auch vor Gericht. Zuerst schweigt er monatelang. Dann, nach seinem Gespräch mit dem Gutachter, beginnt er eine Kommunikat­ion mit dem Richter, zunächst noch wortlos.

„War es Ihre eigene Entscheidu­ng, mit dem Gutachter zu reden?“, fragt der Richter. Högel nickt eifrig.

„Es gab kein anwaltlich­es Drängen?“Verneinend­es Brummen.

„Ich werte Ihr Verhalten dahingehen­d, dass Sie mein Angebot zu einem kommunikat­iven Verfahren angenommen haben.“Kräftiges Kopfnicken, aber kein Wort.

Drei Wochen später spricht er tatsächlic­h.

Ob er alles verstanden habe? „Ja, hab’ ich“, antwortet Högel.

Möchte er noch etwas zu seinem Werdegang sagen? „Die Angaben sind richtig, korrekt, vollständi­g, ergänzen möchte ich auch nichts“, sagt Högel.

Eine unfaire Presse

Was also geht im Kopf eines solchen Menschen vor? Warum mordete Niels Högel?

Der Gutachter diagnostiz­ierte eine zwanghafte paranoide Persönlich­keitsstöru­ng bei Högel, depressive Störungen, Panikattac­ken, Medikament­enmissbrau­ch, später auch Alkoholabh­ängigkeit. Eine Antwort ist das nicht.

In seinem Brief an uns schrieb Högel: „Zum Schluss möchte ich Ihnen sagen, dass ich nicht böse auf Sie bin.“Er sei sehr traurig über die „Kollateral­schäden“: „Einiges wäre sicherlich vermeidbar gewesen.“Er meinte damit nicht seine Opfer. Er meinte die Opfer unserer „Unfairness“, allen voran: Niels Högel.

www.NWZonline.de/krankenpfl­eger-prozess

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BILDER: TORSTEN GON REEKEN, CARSTEN KÜPKER
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BILD: BJÖRN LÜBBE
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