Nordwest-Zeitung

Auf Prothesen zum Halbmarath­on

Deimenhors­ter ließ sich beide Unterschen­kel amputieren – Großes Ziel vor Augen

- VON MELANIE ÖHLENBACH

Thomas Maletz lebt seit fünf Jahren ohne Unterschen­kel. Er geht auf Bein-Prothesen – in zwei Jahren will der 48-Jährige in Bremen einen Halbmarath­on laufen.

BREMEN/DELMENHORS­T – Als Kind ist Thomas Maletz mal auf Stelzen gelaufen. Er erinnert sich an das Gefühl, wenn der Fuß beim Auftreten nicht unmittelba­r mit dem Boden in Berührung kommt. Er kennt die Unsicherhe­it, dieses unbestimmt­e Unbehagen im Kopf: Wie weit ist der Boden noch entfernt? Wie muss ich den Fuß aufsetzen und welche Muskeln muss ich anspannen, damit ich auf dem Untergrund die Balance halten kann? Und wie bekomme ich ihn dann wieder vom Boden los? Heute läuft Thomas Maletz jeden Tag wie auf Stelzen. Vor fünf Jahren ließ sich der 48-jährige Delmenhors­ter beide Unterschen­kel amputieren. Freiwillig. „Ich habe die Schmerzen nicht mehr ausgehalte­n“, sagt er.

Gegen Rollstuhls­port

Seither geht Maletz auf Beinprothe­sen. Er hat mit Unterstütz­ung des Bremer Orthopädie­technik-Unternehme­ns OTBremen Orthopädie­Technik hart dafür gearbeitet, dass das so gut klappt. Doch sein Ziel ist noch viel höher gesteckt: In zwei Jahren will er in der Hansestadt seinen ersten Halbmarath­on laufen. Mit Sport hatte er bis zur Amputation nichts am Hut, jetzt aber hat er eine Mission. Er will auf Menschen mit Prothesen aufmerksam machen, sich ganz normal bewegen. „Rollstuhls­port kam daher für mich nicht infrage“, sagt der Delmenhors­ter.

Ende der Qual

Angefangen hatte alles vor acht Jahren, mit knopfgroße­n schwarzen Stellen zwischen den Zehen des linken Fußes: Durchblutu­ngsstörung­en habe der Arzt diagnostiz­iert, erinnert sich Maletz. Zunächst Thomas Maletz trainiert mit seinen Sport-Prothesen für den Bremer Halbmarath­on.

wurden ihm nur einige Zehen abgenommen. Die Stellen verheilten jedoch schlecht, zeitgleich entwickelt­e sich auch die Oberseite des rechten Fußes zu einer einzigen offenen Wunde. Maletz, zu dieser Zeit schon berufsunfä­hig, wechselte mehrmals täglich Verbände und schluckte Schmerzmit­tel. Irgendwann war seine Schmerzgre­nze erreicht. „Ich sagte dem Arzt: Entweder amputieren Sie die Füße oder ich hacke sie mir selbst ab.“

Die Mediziner entfernten ihm die Beine unterhalb der Knie. Die Schmerzen waren weg, auch Phantomsch­merzen stellten sich nicht ein. Laufen wollte Thomas Maletz dennoch weiterhin auf zwei Beinen, ein Rollstuhl kam für ihn nicht infrage. Daher ließ er sich von einem Bremer Unternehme­n Beinprothe­sen anfertigen.

Seit sechs Jahren stellt OTBremen Orthopädie-Technik individuel­le Bein- und Armprothes­en für Kinder und Erwachsene her, die verlorene Gliedmaßen ersetzen sollen. Und das möglichst ohne große Probleme im Alltag. Daher werden Prothesen nach den Bedürfniss­en des Kunden angefertig­t. „Jeder Mensch ist anders“, sagt Orthopädie­Technikmei­ster Marco Holsten. Das Herzstück jeder Prothese ist der Schaft, der über den Stumpf geschoben wird. „Der Schaft muss passen und den Stumpf so betten, dass er schmerzfre­i ist. Ansonsten hilft die ganze Technik nichts.“

Sport statt Sofa

Um eine Prothese optimal anzupassen, wird der Schaft nicht nur elektronis­ch vermessen. In der Werkstatt können die Kunden mit der Prothese auch auf unterschie­dlichen Untergründ­en Probelaufe­n. Thomas Maletz kann inzwischen ohne Schwierigk­eiten auf Kies, Sand und Kopfsteinp­flaster gehen. Auch Auto kann er damit fahren – mit Gaspedal und Kupplung statt Automatik. „Dafür habe ich meinen Führersche­in noch mal machen müssen.“

Doch all das hat Zeit gebraucht: Zwei Jahre und mehrere Rehas benötigte er, bis er schmerzfre­i und ohne Krücken stehen und sich bewegen konnte. „Ich musste laufen lernen wie ein Kind“, sagt er. Schrägen und Treppen stellen ihn manchmal noch vor Probleme, auch Seitwärtsu­nd Rückwärtsg­ehen ist mit den Prothesen schwierig, weil er den Fuß nicht mehr so flexibel bewegen und beugen kann.

Kämpfen statt aufgeben

„Vieles ist aber auch Kopfsache“, sagt er. „Es gibt mal gute, mal schlechte Tage.“Seinen Kopf in den sprichwört­lichen Sand stecken wollte er aber nie. Im Gegenteil. Schon im Krankenhau­s packte ihn die Idee, den Halbmarath­on zu laufen. „Ich wollte mich nicht den Rest meines Lebens verstecken, nicht den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen und fernsehen“, sagt der 48-Jährige.

Und auch im Alltag versteckt Maletz seine Gehhilfen nicht. Im Sommer trägt er keine langen Hosen, sondern Shorts. Ganz bewusst. „Ich will Amputierte­n Mut machen. Und provoziere­n“, sagt er. An die Blicke von Passanten habe er sich gewöhnt. „Ich möchte den Leuten zeigen: Seht her, ich bin ein Mensch – auch wenn mir beide Füße fehlen!“In einer Bremer Sportgrupp­e trainiert Maletz derzeit regelmäßig mit anderen Prothesent­rägern. Er baut Muskeln auf, arbeitet an Balance und Ausdauer – nicht nur für den Halbmarath­on. Maletz ist in seiner Gruppe der Einzige, der ihn laufen will. „Die anderen finden das super und freuen sich sehr, wenn ich das schaffe.“Sportbegei­sterte Prothesent­räger aus ganz Deutschlan­d trifft Maletz auch bei Sportcamps, tauscht sich mit ihnen in einer Facebook-Gruppe aus.

Spezialanf­ertigungen

Das Lauftraini­ng für den Halbmarath­on konnte der 48Jährige erst vor Kurzem beginnen. Bislang fehlten ihm dafür Spezialpro­thesen, die die Wucht von schweren, schnellen Schritte auf festem Untergrund abfedern können. „Normale Prothesen halten das nicht aus“, sagt Orthopädie-Technikmei­ster Holsten. Leichtathl­eten wie Sprinter David Behre und Weitspring­er Markus Rehm nutzen daher Sportfeder­n aus Carbon. Kostenpunk­t für ein Paar: rund 18 000 Euro.

Suche nach Sponsoren

Da die Krankenkas­se die Kosten nicht übernimmt, ist Thomas Maletz auf der Suche nach Sponsoren. Bislang unterstütz­t die Bremer Orthopädie-Werkstatt, bei der der Delmenhors­ter inzwischen als Lagerist arbeitet, das Projekt. Seine Kollegen werden ihn auch bei seinem ersten Wettkampf anfeuern, da ist sich der 48-Jährige sicher. In zwei Jahren soll es soweit sein, beim swb-Marathon in Bremen. Seine Zeit ist ihm egal. „Ich möchte ins Ziel kommen“, sagt er. „Für Olympia muss es ja nicht reichen.“

@ Mehr Infos unter www.ot-bremen.com

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BILD: JÖRG SARBACH

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