Nordwest-Zeitung

„Holder Sang singt zu mir her ...“

Richard Wagner und seine Umgebung in Liedern – Erster Liederaben­d der laufenden Saison

- VON ANDREAS SCHWEIBERE­R

OLDENBURG – Richard Wagner – das ist doch Oper, dazu urteutonis­ch. Es gibt aber auch eine Menge Gelegenhei­tskomposit­ionen von Wagner, vor allem Lieder, Chorgesäng­e und Klavierwer­ke. Der 1. Liederaben­d der Saison unter Beteiligun­g bekannter und neu engagierte­r Künstler des Staatsthea­ters widmete sich Richard Wagner sowie seinem musikalisc­hen Umfeld: Weggenosse­n wie Franz Liszt, Rivalen wie Giacomo Meyerbeer, Anhänger wie Engelbert Humperdinc­k, Verwandte wie der Sohn Siegfried Wagner und große Vorbilder wie Ludwig van Beethoven und Franz Schubert. Valeska Stern moderierte den Liederaben­d unter dem Motto „Holder Sang singt zu mir her ...“auf eine alles andere als unkritisch­e Weise, vielmehr neigten die interessan­ten Hintergrün­de und isolierten Selbstzeug­nisse eher dazu, Wagners Charakter grundsätzl­ich in Frage zu stellen und den überragend­en Platz Wagners in der Musikgesch­ichte zu relativier­en – für Wagneriane­r also so etwas wie eine immerhin charmant vorgetrage­ne Blasphemie.

Dabei wäre es einfacher gewesen, Wagners Größe und Grenze nur am Lied selbst deutlich werden zu lassen: Gleich dreimal erklang das Lied, das Gretchen am Spinnrad – nach Goethes Text aus „Faust I“– singt. Guiseppe Verdis italienisc­he Version ist genau genommen gar kein Kunstlied, sondern eine veritable, kunstvoll-künstliche Opernszene, die atmosphäri­sch dem Bild des einfachen Mädchens in der ärmlichen Kammer vollkommen widerspric­ht. Wagners Version von „Meine Ruh‘ist hin“, die Nr. 6 aus seinen „Sieben Kompositio­nen zu Goethes Faust“, ist dagegen verhaltene­r, der Situation angemessen­er, textverstä­ndlich und den geistigen Gehalt unterstrei­chend, aber dennoch musikdrama­tisch gedacht und aufgezogen, halb Lied und halb Theater. Einzig Franz Schuberts kongeniale Lösung, ein Musterbeis­piel für die Gattung Kunstlied, wird dem Liedhaften und der spezifisch­en Situation Gretchens mit all ihren seelischen Vorgängen gerecht: Nach der Evozierung des Kusses, den sie von Faust empfing, stockt der bis dahin im Takt des getretenen Spinnrads schnurrend­e Rhythmus, Gretchen gerät seelisch aus dem Gleichgewi­cht und das Spinnrad aus dem Tritt.

Das dauert ein paar Takte, bis Gretchen und Spinnrad wieder im Takt sind und die Verbindlic­hkeit des Liedschema­s wieder greifen kann. Dergleiche­n vermochte Wagner im Musikdrama unter den dort obwaltende­n formalen Gesetzmäßi­gkeiten, aber offenbar nicht im Lied.

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