Drei Schüsse und viele Fragen
Gleich drei Ereignisse binnen 58 Tagen brannten sich ins kollektive Gedächtnis der :tadt. Heute beginnt der Prozess um das Tötungsdelikt in einem Ladenlokal.
OLDENBURG – Ein Schuss. Noch einer. Dann ein dritter. Und die Welt steht still.
Es war kurz nach 18 Uhr, als an diesem 27. Juli 2017 das Oldenburger Stadtleben sich überschlug und gleichsam jäh unterbrochen wurde. Zum zweiten Mal binnen 58 Tagen wurde ein Mensch getötet, ein dritter wäre seinen schweren, durch brutale Hand zugefügten Verletzungen fast erlegen. Dies alles geschah nicht etwa nachts hinter verschlossenen Türen – sondern am frühsommerlichen Tage, mitten in der Oldenburger Obhut. Keine Leichname, die Wochen später aus Hunte oder Erdboden gezogen wurden – sondern Bluttaten, die im bis dato unbekümmerten Herzen der Stadt geschahen. Taten, die kurzzeitig für steigende Pfefferspray-Verkäufe und Zweifel an der hiesigen, ganz persönlichen Sicherheit sorgten.
Da war dieser noch junge Mann (22), der Ende Mai in der Innenstadt und unter den Augen zahlloser Passanten einen syrischen Landsmann (33) nach Streitigkeiten mit einem Messer getötet und Oldenburg wie selten zuvor erschüttert hatte. Wenige Wochen später sollte es einen weiteren, ähnlichen Vorfall am Lappan geben und das Geschehene wie Gesehene sich zumindest für einige Zeit im kollektiven Gedächtnis festsetzen – hier hatte ein Asylbewerber einem anderen, 26-jährigen Marokkaner seine zerbrochene Glasflasche in den Hals gerammt und ihn lebensgefährlich verletzt. Der Festgenommene steht seit Jahresanfang wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag vor Gericht.
Und dann waren da noch besagte Schüsse in einem Nadorster Ladenlokal, die ein weiteres Mal für kurzzeitige gesellschaftliche Schockstarre sorgten: Ein 65-Jähriger verstarb noch am Tatort, ein 60Jähriger wurde schwer verletzt. Tatverdächtig ist diesmal ein 38-jähriger Oldenburger mit türkischer Staatsangehörigkeit, der sich vor Ort festnehmen ließ.
Die Umstände dieses Tötungsdelikts sind zwar polizeilich „ausermittelt“– umfänglich geklärt und juristisch bewertet aber noch nicht. Viele Fragen sind offen, viele Gerüchte zu Tat und Täter(n) machen die Runde, vor allem in den Sozialen Medien. Ab diesem Freitag sollen Antworten gegeben, Eventualitäten ausgeschlossen werden. Vor dem Landgericht wird dann dem mutmaßlichen Todesschützen der Prozess gemacht.
Sehr wahrscheinlich ist, dass in bedeutsamen Abschnitten der Gerichtsverhandlung auch der Name „Rezan Cakici“fällt. Denn der 29-jährige Deutsch-Kurde – geboren in Westerstede und lebend zuletzt in Oldenburg gesehen – ist seit dem 3. Juli 2017 spurlos verschwunden. 24 Tage vor den tödlichen Schüssen in der Nadorster Straße, wo er ein paar Meter weiter bis dato auch Teilhaber einer Shisha-Bar war.
Was einen Zusammenhang der beiden Fälle so wahrscheinlich macht – auch wenn die Behörden diesbezüglich noch mauern –, sind familiäre Bande: Der nach wie vor vermisste junge Mann ist Neffe des getöteten 65-Jährigen und Sohn des seinerzeit schwer verletzten weiteren Opfers.
Logische Folge?
Ein vollendeter und ein versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung wie auch Verstoß gegen das Waffengesetz – so lauten die Vorwürfe gegen den 38-jährigen Tatverdächtigen, der seit dem 27. Juli 2017 seine Untersuchungshaft in der Oldenburger JVA fristet. Er habe sich zumindest dahingehend eingelassen, dass er „angegriffen worden sei und sich durch Schüsse und Schläge zur Wehr gesetzt“habe – so heißt es von der Staatsanwaltschaft. Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage hat nun die Schwurgerichtskammer des Landgerichts zu befinden.
An der Elisabethstraße ist man auf besondere Verhandlungstage vorbereitet, hat die Sicherheitsvorkehrungen dort nach interner Abstimmung erhöht, mehr Wachpersonal einbestellt, dazu Einlasskontrollen angekündigt. Offenbar wollen die Behörden potenziellen Unruhestiftern gleich vermitteln, dass diese Verhandlung kein Beteiligungsprozess sein wird.
Neben jenem Tötungsdelikt und dem spurlosen Verschwinden von Rezan Cakici gibt es noch einen weiteren Aspekt, dem Richter und Staatsanwaltschaft auf den Grund gehen könnten – die Explosion einer Handgranate im Bremer Stadtteil Vahr. Am 7. November ging diese gegen 1.30 Uhr unter einem schwarzen VW Passat in der Wilseder-Berg-Straße hoch. Verletzt wurde niemand. Allerdings soll das betroffene Fahrzeug dem Vater des Vermissten gehören – jenem Mann also, der Ende Juli besagte Schießerei in der Nadorster Straße knapp überlebt hatte. Nach Einschätzung der Polizei in Bremen handelte es sich dabei nicht um einen gezielten Tötungsversuch, sondern eher um eine „Warnung aus dem Gewaltmilieu“. Die Behörden in der Hansestadt standen folglich in engem Kontakt mit der Oldenburger Soko „Kings“, die Vermisstenfall und Tödliche Schüsse bearbeitete. Offiziell ermittelten die Behörden in Oldenburg nur noch zur Vermisstensache, in Bremen lediglich zum Anschlag. Hinter den Kulissen aber mühen sich die Ermittler anscheinend, hier vermutete kriminelle Strukturen aufzuhellen.
Was also ist der tatsächliche Grund für die tödlichen Schüsse, was war Anlass der Explosion? Wo liegt der Schlüssel zu Rezans Verbleib? Gibt es eine logische Folge der Ereignisse oder ist alles nur tragischer Zufall?
Zahlreiche Gerüchte
Um die Gründe für das Verschwinden Rezans indes ranken sich zahlreiche Vermutungen. Während die einen ziemlich hanebüchen daherkommen, haben andere Theorien durchaus Potenzial. Das Gerüchtepuzzle – welches sich aus Einträgen in Sozialen Medien, Kontakten, anonymen Hinweisen und NWZ-Recherchen ergibt – bringt ganz unterschiedliche Handlungsstränge und Personalien auf. Da ist von gescheiterten Drogengeschäften in den Niederlanden die Rede, aber auch von erheblichen „Unstimmigkeiten“im Rockermilieu, die nun gelöst worden seien. Andere fürchten Inkasso-Unternehmen aus dem osteuropäischen Raum. Weitere bringen deutsche Geschäftsleute und Schneeballsysteme ins Spiel, an denen der Vermisste beteiligt gewesen sein soll. Schließlich seien noch die PKK und türkische Geheimdienste „irgendwie“involviert, wie hier wie dort zu lesen ist. Aber eben nicht nur.
Dass die organisierte Bandenkriminalität oder sogenannte Familienclans Probleme intern klären, ist ein offenes Geheimnis. Wer „Mist“baut, also kriminell strukturierte Geschäfte (vom Seriendiebstahl bis zum Mord) im Hoheitsgebiet des anderen vornimmt, wird dies wahrscheinlich nicht allzu lange tun. „Wer sich ins Milieu begibt, weiß um die Gefahren“, sagt man in der Szene. Oder anders formuliert: „This is happen when you fuck up and dont listen. There are rules“, [frei übersetzt: „So etwas passiert, wenn Du’s versaust und nicht zuhörst. Es gibt Regeln!“], wie in einem OnlineKommentar zum Verschwinden Rezans steht.
Auch hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Toter, Verletzter und Täter bei der Schießerei nicht die einzigen Personen im Ladenlokal an der Nadorster Straße gewesen seien. Sollte hier möglicherweise eine Geldübergabe erfolgen? Eine erhoffte Fristverlängerung zum „Freikauf des Vermissten“geklärt werden, wie es heißt? Was wahr ist und was nicht, scheint da kaum herauszufiltern zu sein.
“Nicht vorhersehbar“
In entsprechenden Kreisen wird dann auch gemunkelt, dass Polizei und Staatsanwaltschaften verschiedener Bundesländer gar kein Interesse an einer Aufklärung haben könnten, ihnen dieser Selbstreinigungsprozess in der Szene also nicht in Gänze unrecht sein dürfte. Denn was die jüngsten Ermittlungen in dieser Angelegenheit betrifft, wird auch für viele weitere Straftaten bundesweit, ja international gelten: In den streng organisierten Gruppen gibt es keinerlei Kooperationsbereitschaft zu den Behörden. Freund wie Feind werden durch Schweigen geschützt, man will unter sich bleiben und dort auch alles nach eigenem Recht geklärt wissen.
Allemal: Das Netz fordert ein starkes Signal von Justitia. Eines, das die sogenannte „Massenverängstigung“– wie es Sebastian Bührmann, Vorsitzender Richter am Landgericht, formuliert hatte – ein Stück auszuhebeln vermag.
Denn: „Durch diese Taten ist den Menschen möglicherweise bewusster geworden, dass auch unsere Stadt nicht frei von Kriminalität ist und es auch hier multiple Problemlagen gibt, die Aggressionen, Ängste und Gewalt zur Folge haben“, vermutet Daniela Hirt, traumazentrierte Fachberaterin. Und: „Mord und Totschlag unterscheidet sich martialisch von anderen Todesursachen: er ist nicht vorhersehbar, er ist nicht behandelbar, er ist vor allem für jeden Menschen undenkbar. Für alle Menschen ist Mord etwas, was in Fernsehkrimis oder Kriminalromanen stattfindet. Er gehört aber nicht in das eigene Leben!“Kaum verwunderlich also, dass besagte Geschehnisse da eine gewisse Schockstarre, eine gefühlte Handlungsunfähigkeit und den temporären Verlust des Sicherheitsgefühls folgen ließen. Von einem andauernden Massenphänomen mag Hirt da zwar nicht reden („In der Regel flaut solch ein Schrecken bei nicht direkt betroffenen Personenkreisen relativ schnell ab“) – aber jeder nächste Vorfall mag diese Ereignisse wieder rasch ins Gedächtnis rufen.
Wenngleich viele Bürger dieser Stadt dem anstehenden Prozess mit klaren Erwartungen entgegenschauen dürften, scheinen die Bedingungen vor Gericht mindestens problematisch. Denn obwohl es sich hier um eine polizeilich abgeschlossene Tat nach „geschäftlichen Streitigkeiten“handelt, wie es von den Ermittlern frühzeitig hieß, gibt es doch besagte, nicht zu vernachlässigende, Nebenschauplätze.
Das Personal der Sonderkommission „Kings“wurde allerdings in den vergangenen Wochen reduziert, die Ermittler sind nach Monaten an Grenzen gestoßen. Spuren wurden im Zusammenspiel mit den Behörden im benachbarten Bundesland Bremen aufgearbeitet, Erklärungsversuche immer und immer wieder neu durchdacht – dies alles jedoch ohne (offiziell) verifiziertes Ergebnis. Einzig das möglicherweise mit dem Verschwinden Rezans in Verbindung zu bringende Tötungsdelikt in der Nadorster Straße gilt als polizeilich abgeschlossen. Hier hat nun ab heute die Justiz das Wort. Auch das letzte? Zehn Verhandlungstage sind angesetzt. Vorerst zumindest. Am 27. Juli fielen die Schüsse in der Nadorster Straße.