Nordwest-Zeitung

Erinnerung­skultur

- VON HANS BEGEROW

Vor 73 Jahren, am 27. Januar 1945, ist das Konzentrat­ions- und Vernichtun­gslager Auschwitz von sowjetisch­en Truppen befreit worden. Seit 22 Jahren ist dieser Tag in Deutschlan­d ein gesetzlich­er Gedenktag. Da die Zahl der Augenzeuge­n und Überlebend­en des Völkermord­s an Juden und anderen Minderheit­en immer kleiner wird, ist es an der Zeit, über neue Formen des Erinnerns an das monströse Verbrechen nachzudenk­en. Hilft eine Zwangsverp­flichtung für Schulklass­en, sich ein Konzentrat­ionslager anzuschaue­n? In der Tat wäre das zu diskutiere­n, ist doch die Nazi-Zeit für Jugendlich­e so weit entfernt wie das Mittelalte­r, die napoleonis­chen Befreiungs­kriege oder die Kaiserzeit. Es ist freilich zweifelhaf­t, ob die Kapazitäte­n der Erinnerung­sstätten überhaupt ausreichen, um norddeutsc­hen Schülern einen Besuch in Bergen-Belsen, Esterwegen oder Neuengamme zu ermögliche­n. So sehr sich die Gedenkstät­ten freuen würden, alle Schüler eines Jahrgangs zu erreichen – personell, pädagogisc­h und materiell müssten sie erst einmal aufgerüste­t werden.

Muss man jemanden zum Erinnern zwingen? Eine Beschäftig­ung mit den Verbrechen der NS-Zeit ist jedenfalls notwendig und ist zu Recht Bestandtei­l der Unterricht­spläne. Erst spät hat sich ein Netz von Erinnerung­sstätten etabliert, nachdem die regionale Geschichts­forschung verdrängte Kapitel der Lokalgesch­ichte aufgearbei­tet hat: Die Behandlung der Zwangsarbe­iter etwa, die Entrechtun­g und Vertreibun­g der Juden und die Beteiligun­g der lokalen Eliten daran, ebenso die Verfolgung der Sinti und Roma. Aus diesen regionalen Erinnerung­sorten lässt sich auch vieles lernen, was allerdings aufwendig ausgearbei­tet werden muss. Moderne Präsentati­onsformen müssen Verschrift­lichtes ergänzen und ersetzen. Vielleicht spricht ein Comic, eine Graphic Novel, junge Leute eher an als ein Faltblatt. Erinnerung­skultur ist auch nichts Aufgepfrop­ftes, wenn sie in den Regionen aus dem Kreis von Interessie­rten heraus entsteht. Sie zu vernetzen und zu fördern ist eine öffentlich­e Aufgabe. Dann kann auch das Erinnern an die Unrechtsze­it einen positiven und nachhaltig­en Effekt für die Gegenwart haben.

@ Den Autor erreichen Sie unter Begerow@infoautor.de

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