HIP-HOP TRIFFT AUF BALLETT
Hip-Hop zur Leidensgeschichte Jesu im Oldenburgischen Staatstheater
Gemeinsam mit Raphael Hillebrand hat Ballettdirektor Antoine Jully „Die sieben letzten Worte“choreografiert. Ihnen ist die Verschmelzung zweier Tanzsprachen gelungen.
OLDENBURG – Hip-Hop zu Haydn? Das hätte auch ziemlich schräg enden können. Ist es aber nicht. Die popkulturelle, urbane Bewegungssprache passt überraschend gut zur barocken Musik und integriert sich obendrein spielend in die neoklassische Tanzsprache der Ballett Compagnie Oldenburg. Antoine Jully, immer für eine Überraschung gut, hat einiges gewagt. Doch sein Experiment ist geglückt: Bravos aus dem Publikum am Samstagabend im Großen Haus des Staatstheaters.
Dynamischer Rhythmus
Der Oldenburger Chefchoreograf und Ballettdirektor hat sich für seinen neuen Ballettabend einen besonderen Gast eingeladen: den HipHop-Choreografen Raphael Hillebrand. Gemeinsam haben sie Joseph Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“choreografiert. Ein düsteres Thema, das auch optisch in Szene gesetzt ist: mit einem riesigen, verbogenen und von oben herabhängenden Kreuz, das beweglich und aus Metallprismen zusammengesetzt ist.
Zwei der sieben langsamen Sätze – live gespielt von Musikern des Oldenburgischen Staatsorchesters unter der Leitung von Thomas Bönisch – hat Jully besonders dem in Hongkong geborenen und in Berlin aufgewachsenen Gast anvertraut. Doch im Verlauf der einstündigen Choreografie verschmelzen die Bewegungssprachen, die ohnehin gar nicht so weit auseinanderliegen, denn Jully arbeitet imdingt
mer auch mit Elementen des Modern Dance.
Um aus der eher getragenen Musik einen dynamischen, energischen Rhythmus für die Tänzerinnen und Tänzer zu entwickeln, gab Hillebrand ihnen beim Erarbeiten der Schritte „funky beats“. Diese Energie hat das Ensemble offensichtlich auf die Bühne mitgenommen. Da wirbeln Tänzer auf ihren Schultern um die eigene Achse, wird geklatscht und geschnippt. Ganz wie man sich Jugendliche auf Hinterhöfen
in New York vorstellt. Aber nicht übertrieben und immer auf dem Boden der Passionsgeschichte. Und da Gianluca Sermattei als Jesus (grandios vor allem in den kräftezehrenden Solos) mit nacktem Oberkörper und Jeans tanzt, die anderen elf Tänzerinnen und Tänzer mal mit halbiertem Tutu, mal im fließenden Kleid und mal in Trainingshosen auftreten, kommt der Stilbruch ganz unauffällig daher.
Die Choreografie folgt der Musik und mit ihr dem Sterben Jesu Christi. Nicht unbe- parallel zu den vier Evangelien, aus denen die letzten Worte stammen, doch Schmerz und Leid durchziehen die Ensembleszenen: in wiederkehrenden Bewegungsmustern wie etwa in den flehenden, nach oben gereckten Händen. Sermattei als Jesus hängt selbstredend nicht am Kreuz, aber lehnt in vielen Szenen leidend an dem fragilen Gestänge.
Doch einige der sieben Worte sind auf Anhieb erkennbar. In der Szene „Mich dürstet“(Johannesevangelium) gibt das tanzende, ausgelassene „Volk“zu Füßen des Kreuzes dem Gequälten etwas zu trinken – feine Idee, die Tänzer ihre Plastikflaschen so aneinanderzureihen zu lassen, dass eine Art Pipeline entsteht.
Musikalisches Erdbeben
Besonders gelungen die Szene, in der Jesus – analog zum Johannesevangelium – seine Mutter Maria dem Jünger Johannes anvertraut: „Frau, siehe dein Sohn. – Und du, siehe deine Mutter!“Marié Shimada als klagende Mutter (ganz wundervoll) tanzt auf Spitze, neben Sermattei und Herick Moreira als Johannes. Hier punktet die neoklassische Tanzsprache mit ihrer emotionalen Kraft und der Ausdrucksstärke ihrer (Körper-)Bilder.
Und schließlich das Finale mit hineinströmendem Bühnennebel und musikalischem Erdbeben. Zuvor hatte Sermattei, kerzengerade stehend und umringt vom Ensemble, einen einzigen, klagenden Laut ausgestoßen: „Es ist vollbracht.“Dramatischer hätte es kein Kinofilm in Szene setzen können.
Am Ende erlösender und riesiger Applaus – für das Ballettensemble und das Orchester, besonders aber für Jully und Hillebrand, der sich mit einem Salto aus dem Stand bedankte.
Karten: 0441/222|51|11
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