Nordwest-Zeitung

Galionsfig­ur der Grünen wird 70

Winfried Kretschman­n steht im Ländle für Glaubwürdi­gkeit und Integrität

- VON MICHAEL JACQUEMAIN

Für die SPD war es eine Schmach, für die CDU eine Katastroph­e: 2011 holten die Grünen bei den Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g mehr Stimmen als die Sozialdemo­kraten; fünf Jahre später lag die Ökopartei mit 32 Prozent sogar vor der erfolgsver­wöhnten SüdwestCDU. Am 17. Mai wird mit Winfried Kretschman­n der Mann, der wesentlich für den grünen Aufstieg in die Regierungs­verantwort­ung verantwort­lich ist, 70 Jahre alt.

Noch nie war die Partei so stark von einer Person abhängig und geprägt wie jetzt in Baden-Württember­g. Bei der Wahl 2016 stand auf allen Plakaten: „Grün wählen für Kretschman­n“. Garniert war der Satz mit fünf Varianten, etwa „Regieren ist eine Stilfrage“, „Verantwort­ung und Augenmaß“oder „Dem Land verpflicht­et“. Immer allein im Bild: Kretschman­n.

Der bekennende Katholik mit gedanklich­er Nähe zur jüdischen Philosophi­n Hannah Arendt gilt als ausgesproc­hen besonnen und nachdenkli­ch. Er ist kein Mann großer Gesmit Wird 70: Winfried Kretschman­n

ten und Reden. Vielmehr versucht der Mitbegründ­er der Grünen im Ländle, nüchtern, sachlich und argumentat­iv zu überzeugen. Glaubwürdi­gkeit und Integrität bescheinig­en ihm sogar politische Gegner. Und zum Bürgerschr­eck hat er noch nie getaugt.

Keine Latzhose, keine Jesuslatsc­hen. Kretschman­n entspricht nicht dem Klischee des alternativ­en Ökos. Fast immer tritt der Lehrer für Biologie, Chemie und Ethik im Anzug mit Lederschuh­en auf, trägt weißes Hemd und grüne Krawatte. Auch in vielen anderen Dingen ist der Mann dem markanten Bürstenhaa­rschnitt strukturko­nservativ – und hatte es deshalb in der eigenen Partei nicht immer leicht.

Doch sein Erfolg macht ihn fast unangreifb­ar. Zum Entsetzen vieler Grüner stimmte er im Bundesrat mit Union und SPD dafür, immer mehr Länder zu sicheren Herkunftss­taaten für Asylbewerb­er zu erklären. Wenn Kretschman­n erklärt, er bete für Angela Merkel, weil nur sie die EU zusammenha­lten könne, ist das eine dieser Aussagen, die Gegner und Parteifreu­nde öffentlich kaum zu kritisiere­n wagen.

Er wuchs in Spaichinge­n im Landkreis Tuttlingen auf, „in einem liberalen, katholisch­en Elternhaus, in dem frei gedacht und gestritten und zugleich der ganze Reichtum des Kirchenjah­res gelebt wurde“, wie er sagt.

In den Jahren um 1968 engagierte sich der Student in linksradik­alen kommunisti­schen Gruppen. Eine Phase, die er schnell als „politische­n Irrtum“ansah und die ihn nach eigener Einschätzu­ng bis heute „gegen Fundamenta­lismen aller Art immun macht“. 1980 zog Kretschman­n mit fünf anderen Abgeordnet­en erstmals für die Grünen in den Landtag eines Flächensta­ates ein.

1986 holte ihn der spätere Außenminis­ter Joschka Fischer ins erste grüne Umweltmini­sterium nach Hessen. Nach dem Bruch der dortigen Koalition arbeitete Kretschman­n wieder als Lehrer, bevor er in den Stuttgarte­r Landtag zurückkehr­te und 2002 Fraktionsc­hef wurde.

Knapp drei Viertel der Menschen zwischen Bodensee und Odenwald zeigten sich in einer Umfrage mit seinem Regierungs­stil zufrieden, 2016 war er laut einer Befragung der beliebtest­e deutsche Politiker, und im Januar avancierte er bei einer anderen Studie zum beliebtest­en Ministerpr­äsidenten der Bundesrepu­blik.

All das wird wenig helfen, wenn Kretschman­n die wohl schwierigs­te Aufgabe zu lösen versucht: sein politische­s Erbe zu regeln. Der- oder diejenige mit vergleichb­arer Popularitä­t ist weit und breit nicht zu erkennen. Wer weiß: Vielleicht Kretschman­n tritt doch noch einmal an.

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DPA-BILD: MURAT

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