Nordwest-Zeitung

Unfall als Mahnung für mehr Sicherheit

Hinterblie­bene gedenken der Opfer am 20. Jahrestag der ICE-Entgleisun­g

- VON MICHAEL EVERS

Vor 20 Jahren entgleiste ein ICE in Eschede und prallte mit 200 Stundenkil­ometern gegen eine Betonbrück­e. 101 Menschen starben.

BSCHEDE Die Stufen hinunter zu dem Hain aus 101 Kirschbäum­en und zu der Gedenktafe­l mit den vielen Namen: Für Unglücksop­fer und Angehörige ist es am Sonntag ein schwerer Gang bei der Gedenkvera­nstaltung in Eschede. Mancher wischt sich über das Gesicht.

Genau 20 Jahre nach der ICE-Katastroph­e in dem kleinen Ort in der Lüneburger Heide sehen sich Überlebend­e, Verwandte von Opfern und damalige Helfer wieder. Auf der Tafel neben der Brücke, in die der Unglückszu­g damals hineinrast­e, stehen die Namen aller Toten mit Geburtsort und -datum: Ehepaare mit und ohne Kinder, Kleinkinde­r mit ihrer Mutter, Junge und Alte.

Beim bislang schwersten Bahnunglüc­k in der bundesdeut­schen Geschichte kamen 101 Menschen ums Leben, 88 Reisende wurden schwer verletzt. Am 3. Juni 1998 kurz vor 11 Uhr entgleiste der Intercity-Express 884 „Wilhelm Conrad Röntgen“in der niedersäch­sischen Gemeinde und prallte mit Tempo 200 gegen die Betonbrück­e.

Der Zug war auf dem Weg von München nach Hamburg. Ursache des Unglücks: ein gebrochene­r

Radreifen, der sich an einer Weiche vor der Brücke verhakt hatte. Ein Strafverfa­hren gegen die Bahn und den Reifenhers­teller wurde 2003 eingestell­t.

20 Jahre danach blicken viele Betroffene von oben auf die Gleise, in die Ferne, und als ein ICE mit vollem Tempo vorbeidonn­ert, wird die Wucht der Katastroph­e von damals für einen kurzen Moment greifbar. Angehörige lassen den Gefühlen ihren Lauf, halten einander im Arm oder stützen sich.

Auch Feuerwehrl­eute halten vor der Gedenktafe­l inne, mancher spricht von erschütter­nden

Details des Einsatzes. Den knapp 2000 Helfern boten sich furchtbare Bilder. Opfer lagen blutend und eingeklemm­t in den zerstörten Waggons und unter den Betonmasse­n der eingestürz­ten Straßenbrü­cke. Andere Passagiere hatten sich selbst retten können und irrten unter Schock am Unfallort umher.

„Die Erinnerung daran ist ständige Mahnung, dass Sicherheit Vorrang vor allem anderen haben muss“, sagt Bahn-Vorstand Richard Lutz. Er bekräftigt die Entschuldi­gung der Bahn für das entstanden­e menschlich­e Leid.

Alle Menschen, die damals

in dem Unglückszu­g saßen, hätten sich der Bahn anvertraut. „Und wir müssen dazu stehen, dass wir dieser Verantwort­ung an diesem Tag nicht gerecht geworden sind“, sagt Lutz. Dass es die Bahn erst nach 15 Jahren über sich brachte, sich für die Katastroph­e zu entschuldi­gen, spricht Lutz ebenfalls an: „Die Entschuldi­gung gilt auch für fehlende Sensibilit­ät im Umgang mit Betroffene­n.“

Von einer vermeidbar­en Katastroph­e und einer gescheiter­ten juristisch­en Aufarbeitu­ng spricht Heinrich Löwen von der Selbsthilf­e Eschede, einer Gruppe von

Angehörige­n und Opfern. „Es waren Fehleinsch­ätzungen von Menschen, die zu diesem Unglück führten – Fehlleistu­ngen.“Unbegreifl­ich sei, dass es keine juristisch­en Folgen gegeben habe für die Nachlässig­keit bei der Wartung der Räder. „Das Gericht hat uns mit der Einstellun­g des Verfahrens ein weiteres Mal verletzt.“

Für die Zukunft hat Löwen eine Bitte: „Menschen, die mit dem Zug fahren, sollten unversehrt und sicher ihr Ziel erreichen, denn nichts ist kostbarer als das Leben als solches.“Löwen verlor am 3. Juni 1998 Frau und Tochter.

 ?? BILD: IMAGO ?? Udo Bauch (Mitte) und sein damaliger Retter Andreas Effinghaus­en an der Gedenktafe­l für die 101 Todesopfer. Hinterblie­bene, Überlebend­e, Helfer und Anwohner haben am Sonntag in Eschede an das Zugunglück erinnert.
BILD: IMAGO Udo Bauch (Mitte) und sein damaliger Retter Andreas Effinghaus­en an der Gedenktafe­l für die 101 Todesopfer. Hinterblie­bene, Überlebend­e, Helfer und Anwohner haben am Sonntag in Eschede an das Zugunglück erinnert.

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