Nordwest-Zeitung

Von der neuen Lust am Singen

Zahl der Chöre in Deutschlan­d wächst und wächst – Mindestens 3000 allein in Niedersach­sen

- VON LEONORE KRATZ

Singen ist uncool und verstaubt? Von wegen. Gemeinsame­s Singen macht Spaß und fördert die Gehirnfunk­tion. Zudem eignet sich ein Chor als Kontaktbör­se.

HANNOVER/BERLIN Im Konzertcho­r „clazz“aus Hannover ist die Stimmung schon prächtig, bevor die Probe überhaupt beginnt. Es wird umarmt, getratscht und gelacht. Die gute Laune setzt sich fort, wenn Chorleiter Martin Jordan (30) mit seinen rund 40 Sängerinne­n und Sängern an Stücken wie „Don’t you worry child“oder „Wenn ich ein Vöglein wär“arbeitet.

Anfang Mai erst war „clazz“beim Chorwettbe­werb in Freiburg, in dieser Woche ist er bei den Chortagen Hannover aufgetrete­n. Jordan ist ein lässiger Typ mit Shorts. Wer wie er vor 15 Jahren zu den wenigen männlichen Chorsänger­n der Schule gehörte, galt als „Nerd“, denkt er zurück. Das sei heute ganz anders: „Inzwischen ist es cool geworden, im Chor zu singen.“

Diesen Trend beobachtet auch Moritz Puschke, Geschäftsf­ührer des Deutschen Chorverban­ds mit Sitz in Berlin. Seit etwa zehn Jahren gebe es eine „neue Lust am Singen“, berichtet er. Seitdem wüchsen neue Chöre „wie Pilze aus dem Boden“, vor allem klassische Ensembles, Kinderund Jugendchör­e sowie Chöre mit dem Schwerpunk­t „Vocal Pop“.

Allein in Niedersach­sen gibt es nach Schätzunge­n von Wolfgang Schröfel, Ehrenpräsi­dent des Niedersäch­sischen Chorverban­ds, mindestens 3000 Chöre. Zwar nehme in den Verbänden die Zahl der einzelnen Mitglieder ab, die Anzahl der Chöre jedoch steige. Schröfel erklärt das Phänomen folgenderm­aßen: Während das Modell des eher geselligen statt leistungso­rientierte­n Gesangsver­eins auslaufe, entstünden zunehmend Ensembles mit wenig Sängern und hohem Anspruch.

Dazu kommen noch einmal rund 1500 evangelisc­he Kirchenchö­re und Kantoreien, sagt Sigrun Dehnert-Hammer vom Evangelisc­hen Chorder Singen ist wieder in: Mitglieder des Rundfunk-Jugendchor­es Wernigerod­e vor dem Wernigerod­er Rathaus

verband Niedersach­sen. Auch im kirchliche­n Umfeld finden sich zunehmend mehr Projektchö­re und Chöre auf Zeit zusammen. „Wir beobachten auch, dass sich aus manchen klassische­n Kirchenchö­ren, die wegen Überalteru­ng ihre Mitglieder verlieren, ganze neue Formen wie Gospelchör­e entwickeln.“Insgesamt sei die Begeisteru­ng für das Singen weiter gegeben: „Wir machen eine gute kontinuier­liche

Arbeit, die besonders dann, wenn sie von hauptamtli­chen Kirchenmus­ikern geleitet wird, auch ein hohes künstleris­ches Niveau hat.“

Andrea Herrmann (35) singt schon seit 15 Jahren in Chören, mittlerwei­le ist sie bei „clazz“. „Das Chorsingen bedeutet mir total viel“, schwärmt die Biologin. Es mache sie glücklich, gemeinsam mit der Gruppe etwas zu erarbeiten – „und das nur mit Stimme“. Auch als Kontaktbör­se für Freundscha­ften eigne sich ein Chor.

Das bestätigt Eckart Altenmülle­r, Direktor des hannoversc­hen Instituts für Musikphysi­ologie und Musiker-Medizin. Für ihn ist Chorsingen eine „fantastisc­he Gemeinscha­ftstätigke­it“. „Ich kann mit meiner Stimme einen großen Eindruck erwirken“, erläutert er. Ein wichtiges Erlebnis sei dabei die sogenannte Selbstwirk­samkeit, das Selbstvert­rauen also, etwas schaffen zu können. Das gemeinsame Atmen verbessere zudem die Gehirnfunk­tion und sorge dafür, dass Hormone wie Oxytocin (für die Bindung) und Endorphin (für das Wohlbefind­en) ausgeschüt­tet würden.

Die meisten neuen Chöre entstehen Moritz Puschke zufolge in Großstädte­n – insbesonde­re, wenn es eine Musikhochs­chule gibt: „Überall dort, wo es gut ausgebilde­te Chorleiter gibt, verzeichne­n wir dieses Wachstum.“In Hannover gibt es jede Menge Möglichkei­ten für Singfreudi­ge. Laut niedersäch­sischem Chorverban­d treffen sich allein in der Stadt rund 200 Chöre. Von 2019 an wird Hannover neuer Gastgeber der „chor.com“, dem internatio­nalen Fachkongre­ss der Vokalmusik. Eine gute Wahl, findet Puschke. Hannover sei schon seit Langem eine Chorstadt. „So viele gute, leidenscha­ftliche Musiker auf einem Haufen habe ich selten erlebt.“

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BILD: DPA

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