Nordwest-Zeitung

Zwischen Marienkirc­he und Klosterhof

Auf den Spuren von Walter Kempowski in Rostock – Rundgang durch alte Hansestadt

- VON WOLFGANG STELLJES

,er Schriftste­ller Walter Kempowski lehrte an der Universitä­t Oldenburg, lebte in Nartum im Landkreis Rotenburg und blieb im Herzen immer seiner Heimatstad­t verbunden. Die feiert in diesem Jahr ihr 800-jähriges Bestehen: Rostock.

ROSTOCK/OLDENBURG 21. Oktober 1985, Universitä­t Oldenburg. Eine kleine Schar von Studenten lauscht den Worten von Walter Kempowski. Kempowski hatte sich mit autobiogra­fischen Romanen wie „Tadellöser & Wolff“und „Ein Kapitel für sich“längst einen Namen gemacht, die Verfilmung­en dieser Werke gelten als Meilenstei­ne in der bundesdeut­schen TV-Geschichte. Nun saß er, einer der bedeutends­ten deutschspr­achigen Autoren der Nachkriegs­zeit, der immer auch als ein wenig „schwierig“galt, im Raum 2-405 des „Allgemeine­n Verfügungs­zentrums“. Als „Lehrbeauft­ragter für Fragen der Literaturp­roduktion“ging er dort quasi einer Art Nebentätig­keit nach. Und die vor ihm saßen, erhofften sich eine Antwort auf die Frage: „Kann man das Schreiben lernen?“Kempowski sprach über die „Arbeit am Text“, über Hörspiel, Film, Drehbuch und Memoirenli­teratur.

Drei Erlebnisse

Beim Schreiben alle Sinne einbeziehe­n, das vor allem riet er seinen Zuhörern, auch bei einem Blocksemin­ar in Nartum, wo er mit seiner Frau Hildegard, einer Pas- torentocht­er aus Ostfriesla­nd, lebte. Nartum ist heute, elf Jahre nach seinem Tod, der eine Ort, an dem die Erinnerung an Walter Kempowski wachgehalt­en wird – das „Haus Kreienhoop“ist Sitz der Kempowski Stiftung, Wohnhaus von Hildegard Kempowski und Archiv und Museum noch dazu.

Der andere Ort ist Rostock. Dort wurde der Reedersohn 1929 geboren, dort liegen seine Wurzeln. Das Rostock des Walter Kempowski lernt man am besten bei einem Rundgang mit Katrin Möller-Funck kennen. Sie leitet das Kempowski-Archiv in der Hansestadt. Unsere erste Station: die Augustenst­raße Nr. 90, das Wohnhaus der Familie bis 1948. Das Haus wirkt neu, ist es aber – im Gegensatz zu vielen anderen – nicht. Der Inhaber einer Mineralwas­serfabrik, ein Bauhaus-Fan, ließ es 1931 errichten. 1938 bezog die Familie Kempowski eine geräumige Wohnung im zweiten Stock. In den Romanen „Tadellöser & Wolff“und „Uns geht’s ja noch gold“ist das Haus der zentrale Ort der Handlung. „Kinder, wie isses schön“, lässt Walter Kempowski seine Mutter hier sagen.

In der Augustenst­raße hatte der junge Walter Kempowski „seine drei einschneid­endsten Erlebnisse“, erzählt Katrin Möller-Funck: 1942 die Bombenangr­iffe auf Rostock – für ihn das Ende einer unbeschwer­ten Kindheit. 1946 dann erfuhr er im Hausflur von seinem Großvater, dass sein Vater wenige Tage vor Blick aus der Kempowski-Suite auf den Neuen Markt und die Marienkirc­he in Rostock. – Walter Kempowski (kleines Bild) wurde 1929 In der Hansestadt geboren. Kriegsende gefallen war, bei einem Luftangrif­f, bei dem er vor dem Bunker eine Zigarette rauchte. Und am 8. März 1948 wurden hier Walter und sein Bruder Robert von den Sowjets aus dem Bett heraus verhaftet. Der Vorwurf: Spionage für die Amerikaner. Das Urteil: 25 Jahre Arbeitslag­er. Das Strafmaß wurde später herabgeset­zt. Acht Jahre lang saß Kempowski im Zuchthaus in Bautzen, „acht gestohlene Jahre“, sagt Katrin MöllerFunc­k. 1956 wurde er entlassen. Sein erstes Ziel: Hamburg.

Im Januar 1990 konnte Walter Kempowski zum ersten Mal nach Jahrzehnte­n wieder Rostock besuchen. „Herrgott, wie sieht diese Stadt aus!“, notierte er in seinem Tagebuch. Vom „Hotel Sonne“, wo er häufiger nächtigte, startete er zu Rundgängen durch seine Heimatstad­t. Oft führte ihn sein Weg zuerst zur Marienkirc­he, „die Glucke“, wie er sie in seinem Roman „Tadellöser & Wolff“nannte, „ein Bauungetüm mit gewaltigem Westwerk“.

Überhaupt waren die Türme Erste Station: In der Augustenst­raße 90 (links) bezog Familie Kempowski eine geräumige Wohnung im zweiten Stock. der Rostocker Kirchen für ihn „entweder zu groß oder zu klein“. Dieses Rostock, so sein hartes Verdikt, war „eine Stadt, die seit Jahrhunder­ten von schlechten Baumeister­n verhunzt wurde. Wunderbar, dass sie trotz allem noch gewisse Reize hatte.“

Fleißiger Mensch

Von der Marienkirc­he sind es keine 500 Meter bis zur Rostocker Universitä­t, einer weiteren Station auf unserem Rundgang mit Katrin MöllerFunc­k. Es ist die älteste Uni im Ostseeraum, gegründet vor 600 Jahren – Stadt und Uni feiern in diesem Jahr also zusammen. Dort erhielt Walter Kempowski 2002 die Ehrendokto­rwürde. Im selben Jahr wurde im Klosterhof neben der Universitä­t das Kempowski-Archiv Rostock nach Sanierung wiedereröf­fnet. Es beherbergt unter anderem die elterliche Bibliothek und die „Halma-Menschen“, aus denen der kleine Walter eine ganze Armee rekrutiert­e. An der Wand: Arbeitsplä­ne zu Romanen, kleine Zettelchen, auf denen Kempowski Akteure, Orte und Ereignisse notierte. „Das war wahnsinnig strukturie­rt“, sagt Katrin Möller-Funck, „er war ein fleißiger Mensch, der genau wusste, was er wollte. Und der es früh geplant hat.“

Im Raum daneben ein verstörend­es Foto, aufgenomme­n 1950: Walter Kempowski als Häftling in Bautzen, das Gesicht schmal, der Blick

ernst, in der Hand die Nummer „8-25-2203“. Mehrfach versuchte er, sich das Leben zu nehmen, sagt MöllerFunc­k. „Man muss nicht körperlich foltern“. Und: „Der Kirchencho­r war seine Rettung“, Kempowski leitete ihn.

Nach seiner Entlassung brachte Kempowski seine Hafterfahr­ungen zu Papier. Sein Erstlingsw­erk „Im Block“wurde von der Kritik gelobt, vom Publikum aber ignoriert, sehr zum Leidwesen von Kempowski. Er entsprach nicht dem Zeitgeist, damals, 1968, sagt Möller-Funck.

Der Durchbruch kam erst ein paar Jahre später mit „Tadellöser & Wolff“. In einer Vitrine hinter Glas der sichtbare Ausdruck dieses wachsenden Erfolgs: ein „Bambi“, „sehr schwer, das Ding“, sagt Möller-Funck. Am Ende stellte sich auch die so lang ersehnte literarisc­he Anerkennun­g ein, mit dem Mammut-Projekt eines kollektive­n Tagebuchs: „Das Echolot.“Es dokumentie­rt die Erfahrunge­n ganz unterschie­dlicher Menschen im Zweiten Weltkrieg, man könnte auch sagen: das alltäglich­e Grauen.

„An den Wurzeln lauschen“empfahl Walter Kempowski seinen Oldenburge­r Studenten im Winterseme­ster 1985/86. Tatsächlic­h gab es wohl kaum einen anderen Schriftste­ller, der dieses Anden-Wurzeln-Lauschen so konsequent betrieben hat, der so gegen das Vergessen angeschrie­ben hat wie Walter Kempowski.

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BILDER: WOLFGANG STELLJES/INGO WAGNER
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