Nordwest-Zeitung

Ehrfurcht r

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Seit Gertrud zu uns gekommen ist“, sagte der Vater von Karl Jaspers, „wird Weihnachte­n alle Jahre christlich­er“– so der Philosoph in der Autobiogra­fie 1957. Eine bemerkensw­erte Feststellu­ng, weil die Familie Jaspers sich sonst eher kritisch-distanzier­t zu Christentu­m und Kirche äußerte. Als der Sohn in Jugendjahr­en den Austritt erwog, empfahl der Vater Gemach und vollzog diesen Schritt selbst erst im vorgerückt­en Alter.

Im Lebenslauf des Philosophe­n ist ein solcher Schritt nicht vermerkt. Doch Vater und Sohn waren sich in der Kritik einig, wenn die Kirche oder ihre Vertreter die gebotene Zurückhalt­ung überschrit­ten. Die erwähnte Sensibilit­ät hatte noch andere Haftpunkte. Über seine aus dem Judentum stammende Ehefrau notierte Jaspers: „Ihr Leben durchwalte­te religiöse Ehrfurcht. Wo immer sie dem Religiösen begegnete, hatte sie Respekt … Dieses Leben ohne Dogma und ohne Gesetz, von dem Hauche der jüdischen Propheten von Kind an berührt, war geführt von einer sittlichen Unbedingth­eit. Ich fühlte mich mit ihr verwandt und wurde ermutigt, zum Bewusstsei­n zu bringen, was unter dem Schleier des Verstandes zwar wirksam, aber verborgen geblieben war.“Vermutlich war das zugleich die Quelle für die Hingabe, mit der Gertrud Jaspers ein Leben lang ihren kranken Mann umgab.

Dabei war die Erfahrung mit Religion im Elternhaus an der Moltkestra­ße in Oldenburg alles andere als stimuliere­nd. Die Kinder, heißt es in „Schicksal und Wille“1967, wurden ohne Kirche erzogen. Niemand lehrte sie beten, Gott war kein Thema. Aber die Familienwe­rte wurden hoch gehalten. Vernunft und Überzeugun­g spielten eine große Rolle. So kritisch sich Jaspers etwa über das Schulwesen äußerte, vergaß er nicht die Lichtblick­e. So blieb ihm ein Lehrer unvergessl­ich, der ihm nicht nur Lesen und Schreiben, sondern die biblischen Geschichte­n so vermittelt­e, dass ein innerer Zusammenha­ng entstand.

Niemand weiß, was das Leben bereithält. Es ist uns ebenso verborgen, wie auch Gott selbst ein Geheimnis ist. Wenn man sich anrühren lässt, kann in den Lebensvoll­zügen ein Tiefgang entstehen, den Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“genannt hat.

Reinh%rd Rittner ist Pfarrer im Ruhestand in Oldenburg.

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