Klassenfahrt nach Hannover
Schüler besuchen den Niedersächsischen Landtag 1954
Vom 20. bis zum 26. Juni 1954 fuhren 19 Jungen der Klasse 11g des Gymnasiums Hannoversch Münden im südlichen Niedersachsen mit ihrem Lehrer auf Klassenfahrt nach Hannover. Zu den Teilnehmern gehörte auch der Autor dieses Beitrags.
In Hannover wurde ein großes Programm absolviert. So kam man schon beim ersten Stadtgang am Leineschloss vorbei. Es „besteht bis auf die Außenmauern nicht mehr, wird aber schon wiederaufgebaut, später soll dort der Landtag hinein.“Auch das Niedersachsenstadion befand sich damals im Bau.
In den nächsten Tagen wurden das Landesmuseum, die Pelikanwerke, das Bahlsenwerk, die Gildebrauerei, die Herrenhäuser Gärten, die Technische Hochschule und die Oper mit einer Aufführung von Carl Zellers „Vogelhändler“besucht. Am 24. Juni besichtigte man vormittags die Sprengel-Schokoladenfabrik. Hier setzt nun der vor fast 64 Jahren niedergeschriebene Bericht (in der Orthografie der damaligen Zeit) ein:
Die Landtagssitzung
Nach dem Mittagessen „marschierten wir im Gleichschritt zur Stadthalle, wo wir uns für 14.30 Uhr zur Landtagssitzung angemeldet hatten. Wir mußten lange warten und besichtigten inzwischen den Stadthallengarten, wo im Vorjahre eine große Blumenausstellung gewesen war. Es waren noch sehr schöne Blumenbeete vorhanden. Bei der Fontaine wurden wir durch den Wind ganz hübsch naßgespritzt.
Bei einer kurzen Einführung von einer Dame bekamen die 8 Besten von uns einen Fahrradwimpel des Niedersächsischen Landtages. Dann wurden wir in den Zuschauerraum geführt. Es gibt im Niedersächsischen Landtag 156 Abgeordnete, es waren aber nur gut 120 da. Die ersten Punkte wurden durch Händeheben abgestimmt und fast einstimmig angenommen. Das war soweit nicht sehr interessant.
Aber bei den Debatten über die Besetzung der Landwirtschaftskammern wurde es lebhafter. Die DP/CDU wollte neben den 3 schon festgesetzten Landwirten noch unbedingt 2 Landwirte in die Kammer haben, während die SPD und der BHE 2 Personen, die nicht unbedingt Landwirte sein mußten, vorschlugen. Es gab heftige Debatten und mehrere Ab-
stimm<ngen. Die 1. Abstimm<ng d<rch Handa<fheben entschied der Vizepräsident für die SPD, das Präsidi<m zweifelte das an, <nd so m<ßte der Hammelspr<ng vorgenommen werden. Die Abgeordneten gingen z<erst ra<s <nd kamen dann entweder d<rch die Ja-, Nein- oder Enthalt<ngstür herein. Das 1. Mal waren es 62:55 für die SPD. Die beha<ptete, es wären nicht alle mitgezählt worden. Es gab eine Wiederhol<ng 68:55. Nach weiteren heftigen Debatten gab es eine namentliche Abstimm<ng, wobei jeder Abgeordnete a<fger<fen w<rde <nd ja oder nein sagte. Einer sagte <nter dem Gelächter des Ha<ses wie in der Sch<le: „hier“. Die Abstimm<ng ergab 70:55.
Um 18.00 war Schl<ß. Beim Hina<sgehen hörte ein Klassenkamerad einen SPD-Abgeordneten, der sich schon bei den Debatten heftig betätigt hatte, sagen: ‚N<r keinen Streit vermeiden‘.“
– Bei dem SPD-Abgeordneten handelte es sich vermutlich um Hellmuth Schmalz.
Landtagsfraktionen
Soweit die Schilderung des Schülers. Dem Entgegenkommen der Bibliothekarin des Niedersächsischen Landtages ist es zu verdanken, dass der Erlebnisbericht mit den offiziellen stenografischen Landtagsprotokollen verglichen und die Zusammensetzung des Parlaments anhand der gedruckten Landtagshandbücher rekonstruiert werden können.
Nach dem Stand vom 15. Oktober 1951 setzten sich die Fraktionen folgendermaßen zusammen: SPD: 64 Abgeordnete, DP/CDU = Niederdeutsche Union: 35, BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten): 21, SRP (Sozialistische Reichspartei): 15, FDP: 13, Zentrum: 4, KPD: 2, DRP (Deutsche Reichspartei): 1, DSP (Deutsche Soziale Parttei): 1, dazu 2 Unabhängige, Gesamtzahl: 158 Abgeordnete (darunter 4 Frauen).
Nach dem Verbot der SRP durch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1952 bestand der Landtag nach dem Stand vom 1. Februar 1954 nur noch aus fünf Fraktionen: SPD: 58, DP/CDU: 42, Gesamtdeutscher Block/BHE: 23, FDP: 16, Mitte (Zentrum, DRP, Parteilose u.a.): 13, dazu 3 Fraktionslose (KPD), Gesamtzahl: 155 Abgeordnete (darunter 8 Frauen). An der Spitze einer Koalition aus SPD und BHE stand Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (SPD).
Gesetz über Landwirtschaftskammern
Bei den im Schülerbericht beschriebenen Vorgängen handelt es sich um die von dem Vizepräsidenten Richard Meyer aus Oldenburg (BHE) geleitete 74. Landtagssitzung vom 24. Juni 1954, und zwar speziell um die dritte Lesung des Gesetzes über Landwirtschaftskammern.
Bei der geschilderten Diskussion ging es darum, ob dem geplanten Grundstücksverkehrsausschuss neben den drei zur Landwirtschaftskammer gewählten Landwirten eines Kreises auch zwei vom Kreistags gewählte Personen oder, wie ein Antrag der DP/ CDU-Fraktion forderte, zwei Landwirte angehören sollten. Die nachfolgenden Abstimmungen sollen hier nach dem Landtagsprotokoll noch einmal wiedergegeben werden:
„Vizepräsident MeCer-Bldenb<rg: Weitere Wortmeld<ngen liegen nicht vor. Die Berat<ng ist geschlossen. @ Wir kommen n<nmehr z<r Abstimm<ng über den Antrag Nr. 1508D1 der Eraktion der DPD FDU, nach welchem in G 2 des Gesetzes ein ne<er Abs. H eingefügt werden soll. Wer diesem Antrag seine I<stimm<ng geben will, den bitte ich, eine Hand z< erheben. @ Ich bitte <m die Gegenprobe. @ Das letztere ist die MehrheitJ der Antrag ist abgelehnt.
Das Ergebnis ist hier im Präsidi<m angezweifelt worden. Wir kommen z<m Hammelspr<ng. Wer dem Antrag z<stimmen will, geht d<rch die Ja-Kür, wer ihn verneinen will, d<rch die Nein-Kür, wer sich enthalten will, d<rch die Kür für Enthalt<ngen. @ Ich bitte, die Küren z< schließen. Die Abstimm<ng beginnt. @ Die Abstimm<ng ist geschlossen.
Die Abstimm<ng hatte folgendes Ergebnis: Mit Ja haben 52 Abgeordnete gestimmt. =Schriftführer =Hanns> Gorski =DPDFDU>: 55?> @ 55J mit Nein 62 Abgeordnete. Der Antrag ist also abgelehnt. =I<r<f von der SPD: Da stimmt doch etwas nichtJ wir haben hier bei <ns schon 65 gezählt. @ Abgeordneter Schlüter =EDP>: Dann müssen wir wiederholen, Herr Präsident, aber dann kriegen wir mehr. @ Unr<he. @ I<r<fe: Wiederholen.>
Das Abstimm<ngsverhältnis ist klar. Hier hat sich wohl Herr Gorski geirrt. Aber das Abstimm<ngsverhältnis ist ja schon, so wie er es angegeben hatte, klar. @ Besteht das Ha<s a<f einer nochmaligen Abstimm<ngL =I<r<fe: Jawohl?> @ Dann bitte ich, die Abstimm<ng z< wiederholen. @ Die Abstimm<ng beginnt. @ Die Abstimm<ng ist beendet.
Ich gebe das Abstimm<ngsergebnis bekannt: Mit Ja haben 55 Abgeordnete, mit Nein haben 68 Abgeordnete gestimmt. Stimmenthalt<ng: keine. Der Antrag ist abgelehnt. =Abgeordneter Partzsch =SPD>: Es fehlt das ne<nte Sch<ljahr? @ Heiterkeit.>“ Mit dieser Abstimmung waren die Debatten um das Gesetz keineswegs beendet. Im weiteren Verlauf ging es u.a. um einen Zusatzantrag des Abgeordneten Reinhard Onken (FDP), der in einem anderen Zusammenhang des besprochenen Gesetzes beantragte, das Wort „Personen“durch das Wort „Landwirte“zu ersetzen: „Das Aandwirtschaftskammergesetz ist ein Gesetz für eine ber<fsständische Brganisation. Das allein bedingt schon, da man dort nicht ‚Personen‘ einsetzt, sondern ‚Aandwirte‘.“ Auch dieser Antrag wurde in einer namentlichen Abstimmung mit 70:55 Stimmen abgelehnt. Der Heiterkeit erregende Versehen mit dem „Hier“eines Parlamentariers wird im Protokoll nicht erwähnt. Das gesamte Gesetz wurde anschließend in dritter Lesung mit Stimmenmehrheit verabschiedet. Schluss der Sitzung war um 18.03 Uhr.
Nüchternes Protokoll
Insgesamt stimmt der aus dem Gedächtnis niedergeschriebene Schülerbericht mit dem offiziellen Protokoll weitgehend überein, nur, dass das amtliche Schriftwerk in seiner Nüchternheit nicht erkennen lässt, was für Kuriositäten sich da in einem Parlament abgespielt haben. Man mag dem Gremium zugutehalten, dass es noch sehr jung und unerfahren war, immerhin existierte ein freigewählter Niedersächsischer Landtag erst seit rund sieben Jahren und befand sich seit drei Jahren in seiner zweiten Wahlperiode.
Übrigens: Der Schüler von damals ahnte natürlich nicht, dass er sich Jahrzehnte später intensiv mit der Geschichte des Oldenburgischen Landtags, eines der Vorgänger des niedersächsischen Landesparlaments, und mit der Gründung des Landes Niedersachsen aus oldenburgischer Sicht beschäftigen sollte.