Nordwest-Zeitung

Lebenslang für Zschäpe

Aber ihr Verteidige­r will das Urteil anfechten

- VON CHRISTOPH TROST UND CHRISTOPH LEMMER

Fast 440 Tage hat das Oberlandes­gericht München verhandelt. Doch auch nach dem Urteil reißt die Kritik nicht ab, Fragen bleiben offen.

MÜNCHEN Nach mehr als fünf Jahren NSU-Prozess ist die Rechtsterr­oristin Beate Zschäpe wegen der Mordserie des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“zu lebenslang­er Haft verurteilt worden. Das Oberlandes­gericht München sprach die 43-Jährige am Mittwoch unter anderem des zehnfachen Mordes und der Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g schuldig. Es stellte zudem die besondere

Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlas­sung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlo­ssen.

Viele Politiker, Menschenre­chtsorgani­sationen und Verbände wie die Vertretung der Türken in Deutschlan­d begrüßten das Urteil zwar, forderten aber eine weitere Aufarbeitu­ng des NSU-Umfelds und der Rolle der Sicherheit­sbehörden. Der Sprecher des türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan kritisiert­e das Urteil: Es sei „alles andere als zufriedens­tellend“. Unter dem Motto „Kein Schlussstr­ich“forderten mehrere Tausend Menschen bei Demonstrat­ionen in deutschen Städten, darunter Berlin, rechtsextr­eme Gewalt nicht zu verharmlos­en.

Um 14.52 Uhr hatte der Vorsitzend­e Richter Manfred Götzl den Mammutproz­ess für beendet erklärt. Der Bundesgeri­chtshof muss das Verfahren aber überprüfen. Mehrere Verteidige­r kündigten an, Revision einzulegen. Zschäpes Vertrauens­anwalt Mathias Grasel etwa hält das Urteil für juristisch nicht haltbar: Sie sei an keinem Tatort gewesen und habe nie eine Waffe abgefeuert oder eine Bombe gezündet. Herbert Diemer von der Bundesanwa­ltschaft sagte hingegen: „Dass wir dieses Urteil haben, ist ein Erfolg des Rechtsstaa­ts.“

Mit dem Urteilsspr­uch im Fall Zschäpe folgte das Gericht dem Antrag der Bundesanwa­ltschaft. Allerdings ordnete es keine Sicherungs­verwahrung im Anschluss an die Haftstrafe an. Der Mitangekla­gte Ralf Wohlleben wurde als NSUWaffenb­eschaffer zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sprach ihn der Beihilfe zum Mord in neun Fällen schuldig. Holger G. aus Niedersach­sen wurde wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g zu drei Jahren Haft verurteilt, Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu drei Jahren Jugendstra­fe. Beim Mitangekla­gten André E. blieb das Gericht mit zweieinhal­b Jahren Haft weit unter der Forderung der Bundesanwa­ltschaft, die auf Beihilfe zum versuchten Mord plädiert hatte. Das Gericht verurteilt­e E. nur wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g und hob die Untersuchu­ngshaft auf.

Nachts um 3.30 Uhr kamen die Neonazis, unter ihnen ein verurteilt­er Rechtsterr­orist. Bald zog sich die Besuchersc­hlange über den gesamten Vorplatz. Die ersten Besucher waren schon um 22 Uhr am Vorabend gekommen, um der Öffnung der Gerichtstü­ren um 7.30 zu harren. Schlaflose Nebenkläge­r und Anwälte schauten nachts auch schon vorbei.

„Es ist schön zu sehen, dass wir nicht allein sind“, sagte etwa Semiya Simsek, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, die ihren Vater vor bald 1 Jahren verloren hat. Für die Urteilsver­kündung in diesem Mammutproz­ess waren viele Hinterblie­bene angereist. Eine Erleichter­ung erhofften sich alle mit dem Urteil.

In den Nachtstund­en musste man unweigerli­ch an Angela Merkels Worte vom Februar 2012 zurückdenk­en: „Wir tun alles, um die Morde aufzukläre­n und die Helfershel­fer und Hintermänn­er aufzudecke­n und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständige­n Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“

Nachts zogen Szenen aus dem Prozess und den Untersuchu­ngsausschü­ssen vorbei: Da waren die Neonazis, die den Prozess als „Affentheat­er“verhöhnten. Da war der Zeuge, der versichert­e, Uwe Mundlos hätte zur Zeit der NSU-Morde in der Baufirma eines V-Manns gearbeitet. Der Staatsanwa­lt, der berichtete, dass Verfassung­sschützer regelmäßig die Ermittlung­sakten eines V-Manns eingesehen und die Polizei vor einer „Hexenjagd“auf ihren Spitzel gewarnt hatten.

Da konstatier­te der Geheimdien­stkoordina­tor im Kanzleramt forsch, es dürften „keine Staatsgehe­imnisse bekanntwer­den, die ein Regierungs­handeln unterminie­ren“. Da wurden bundesweit Verfassung­sschutzakt­en geschredde­rt, V-Männer und Verfassung­sschützer vor Strafverfo­lgung geschützt.

Heute wissen wir, dass der sächsische Verfassung­sschutz schon im Frühling 2000, also vor dem ersten NSU-Mord, befand, dass von dem untergetau­chten Trio „schwerste

Straftaten“zu erwarten seien. „Finden Sie nichts raus“, musste ein Thüringer Ermittler von einem Vorgesetzt­en hören.

Grund zur Besorgnis liefert noch heute die Tatsache, dass das Terrornetz­werk nicht ansatzweis­e ausermitte­lt wurde. Die Ausspählis­te des NSU zum Beispiel enthält so detaillier­te Angaben zu 10 000 potenziell­en Tatorten, dass sich die Abgeordnet­en des Untersuchu­ngsausschu­sses im Bundestag sicher sind, dass es ein bundesweit­es Unterstütz­ernetzwerk gab, das möglicherw­eise noch intakt ist.

Angeklagt war nur die Spitze des Eisbergs, Bemühungen der Nebenkläge­r, Antworten auf die brennenden Fragen ihrer Mandanten zu finden, wurden vom vorsitzend­en Richter Manfred Götzl und der Bundesanwa­ltschaft im Keim erstickt.

Die Ermittlung­sverfahren gegen neun weitere Beschuldig­te, darunter die Ehefrau des Verurteilt­en Andre Eminger sowie mindestens einen V-Mann, drohen in die Verjährung getrieben zu werden. Geschehen ist das 2016 schon einmal vor aller Augen: Im Falle des Verfassung­sschutzmit­arbeiters, der im November 2011 vorsätzlic­h tausende Aktenseite­n geschredde­rt hatte, um die Vielzahl von V-Männern rund um den NSU zu vertuschen.

All das passierte Revue in dieser schlaflose­n Nacht vor der Urteilsver­kündung.

Der sechste Senat des Oberlandes­gerichts ist nicht eben für Milde bekannt. Doch ausgerechn­et bei den beiden Angeklagte­n, die an ihrer Gesinnung keinerlei Zweifel ließen, Ralf Wohlleben und André Erminger, die regelmäßig durch neonazisti­sche Statements, ideologisc­he Beweisantr­äge und Szenekleid­ung auf sich aufmerksam machten, ausgerechn­et bei diesen beiden bleibt das Gericht deutlich unter der Strafmaßfo­rderung der Oberstaats­anwälte.

Und das, obwohl die Bundesanwa­ltschaft davon ausgeht, dass Eminger, dessen Bauch die Tätowierun­g „Die Jew die“(Stirb Jude, stirb) ziert und der bis zuletzt zu den engsten Vertrauten des Terrortrio­s zählte, vollumfäng­lich über die Taten informiert war und möglicherw­eise sogar der „vierte Mann“im zynischen Bekennervi­deo des NSU gewesen sein könnte. Von der Beihilfe zum versuchten Mord sprach ihn der Senat frei, sodass er nur wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g zu verurteile­n war. Der gesetzlich­e Strafrahme­n von zehn Jahren wurde nicht annähernd ausgeschöp­ft, Eminger wurde mit einem Strafmaß von zweieinhal­b Jahren geradezu belohnt, sein Haftbefehl aufgehoben.

Nach einem kurzen, ungläubige­n Schweigen brandete Applaus unter den Neonazis auf der Tribüne auf. Das Klatschen der Neonazis und die verzweifel­ten Schluchzen der Hinterblie­benen haben in einem der wichtigste­n Prozesse der deutschen Nachkriegs­geschichte den Schlussakk­ord gesetzt. Nein, das kann kein Schlussstr­ich sein!

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DPA-BILD: KNEFFEL Verurteilt wegen Mordes: Beate Zschäpe steht am Mittwoch im Oberlandes­gericht München.

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