Lebenslang für Zschäpe
Aber ihr Verteidiger will das Urteil anfechten
Fast 440 Tage hat das Oberlandesgericht München verhandelt. Doch auch nach dem Urteil reißt die Kritik nicht ab, Fragen bleiben offen.
MÜNCHEN Nach mehr als fünf Jahren NSU-Prozess ist die Rechtsterroristin Beate Zschäpe wegen der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Oberlandesgericht München sprach die 43-Jährige am Mittwoch unter anderem des zehnfachen Mordes und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig. Es stellte zudem die besondere
Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlossen.
Viele Politiker, Menschenrechtsorganisationen und Verbände wie die Vertretung der Türken in Deutschland begrüßten das Urteil zwar, forderten aber eine weitere Aufarbeitung des NSU-Umfelds und der Rolle der Sicherheitsbehörden. Der Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisierte das Urteil: Es sei „alles andere als zufriedenstellend“. Unter dem Motto „Kein Schlussstrich“forderten mehrere Tausend Menschen bei Demonstrationen in deutschen Städten, darunter Berlin, rechtsextreme Gewalt nicht zu verharmlosen.
Um 14.52 Uhr hatte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl den Mammutprozess für beendet erklärt. Der Bundesgerichtshof muss das Verfahren aber überprüfen. Mehrere Verteidiger kündigten an, Revision einzulegen. Zschäpes Vertrauensanwalt Mathias Grasel etwa hält das Urteil für juristisch nicht haltbar: Sie sei an keinem Tatort gewesen und habe nie eine Waffe abgefeuert oder eine Bombe gezündet. Herbert Diemer von der Bundesanwaltschaft sagte hingegen: „Dass wir dieses Urteil haben, ist ein Erfolg des Rechtsstaats.“
Mit dem Urteilsspruch im Fall Zschäpe folgte das Gericht dem Antrag der Bundesanwaltschaft. Allerdings ordnete es keine Sicherungsverwahrung im Anschluss an die Haftstrafe an. Der Mitangeklagte Ralf Wohlleben wurde als NSUWaffenbeschaffer zu zehn Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sprach ihn der Beihilfe zum Mord in neun Fällen schuldig. Holger G. aus Niedersachsen wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren Haft verurteilt, Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu drei Jahren Jugendstrafe. Beim Mitangeklagten André E. blieb das Gericht mit zweieinhalb Jahren Haft weit unter der Forderung der Bundesanwaltschaft, die auf Beihilfe zum versuchten Mord plädiert hatte. Das Gericht verurteilte E. nur wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und hob die Untersuchungshaft auf.
Nachts um 3.30 Uhr kamen die Neonazis, unter ihnen ein verurteilter Rechtsterrorist. Bald zog sich die Besucherschlange über den gesamten Vorplatz. Die ersten Besucher waren schon um 22 Uhr am Vorabend gekommen, um der Öffnung der Gerichtstüren um 7.30 zu harren. Schlaflose Nebenkläger und Anwälte schauten nachts auch schon vorbei.
„Es ist schön zu sehen, dass wir nicht allein sind“, sagte etwa Semiya Simsek, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, die ihren Vater vor bald 1 Jahren verloren hat. Für die Urteilsverkündung in diesem Mammutprozess waren viele Hinterbliebene angereist. Eine Erleichterung erhofften sich alle mit dem Urteil.
In den Nachtstunden musste man unweigerlich an Angela Merkels Worte vom Februar 2012 zurückdenken: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck.“
Nachts zogen Szenen aus dem Prozess und den Untersuchungsausschüssen vorbei: Da waren die Neonazis, die den Prozess als „Affentheater“verhöhnten. Da war der Zeuge, der versicherte, Uwe Mundlos hätte zur Zeit der NSU-Morde in der Baufirma eines V-Manns gearbeitet. Der Staatsanwalt, der berichtete, dass Verfassungsschützer regelmäßig die Ermittlungsakten eines V-Manns eingesehen und die Polizei vor einer „Hexenjagd“auf ihren Spitzel gewarnt hatten.
Da konstatierte der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt forsch, es dürften „keine Staatsgeheimnisse bekanntwerden, die ein Regierungshandeln unterminieren“. Da wurden bundesweit Verfassungsschutzakten geschreddert, V-Männer und Verfassungsschützer vor Strafverfolgung geschützt.
Heute wissen wir, dass der sächsische Verfassungsschutz schon im Frühling 2000, also vor dem ersten NSU-Mord, befand, dass von dem untergetauchten Trio „schwerste
Straftaten“zu erwarten seien. „Finden Sie nichts raus“, musste ein Thüringer Ermittler von einem Vorgesetzten hören.
Grund zur Besorgnis liefert noch heute die Tatsache, dass das Terrornetzwerk nicht ansatzweise ausermittelt wurde. Die Ausspähliste des NSU zum Beispiel enthält so detaillierte Angaben zu 10 000 potenziellen Tatorten, dass sich die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses im Bundestag sicher sind, dass es ein bundesweites Unterstützernetzwerk gab, das möglicherweise noch intakt ist.
Angeklagt war nur die Spitze des Eisbergs, Bemühungen der Nebenkläger, Antworten auf die brennenden Fragen ihrer Mandanten zu finden, wurden vom vorsitzenden Richter Manfred Götzl und der Bundesanwaltschaft im Keim erstickt.
Die Ermittlungsverfahren gegen neun weitere Beschuldigte, darunter die Ehefrau des Verurteilten Andre Eminger sowie mindestens einen V-Mann, drohen in die Verjährung getrieben zu werden. Geschehen ist das 2016 schon einmal vor aller Augen: Im Falle des Verfassungsschutzmitarbeiters, der im November 2011 vorsätzlich tausende Aktenseiten geschreddert hatte, um die Vielzahl von V-Männern rund um den NSU zu vertuschen.
All das passierte Revue in dieser schlaflosen Nacht vor der Urteilsverkündung.
Der sechste Senat des Oberlandesgerichts ist nicht eben für Milde bekannt. Doch ausgerechnet bei den beiden Angeklagten, die an ihrer Gesinnung keinerlei Zweifel ließen, Ralf Wohlleben und André Erminger, die regelmäßig durch neonazistische Statements, ideologische Beweisanträge und Szenekleidung auf sich aufmerksam machten, ausgerechnet bei diesen beiden bleibt das Gericht deutlich unter der Strafmaßforderung der Oberstaatsanwälte.
Und das, obwohl die Bundesanwaltschaft davon ausgeht, dass Eminger, dessen Bauch die Tätowierung „Die Jew die“(Stirb Jude, stirb) ziert und der bis zuletzt zu den engsten Vertrauten des Terrortrios zählte, vollumfänglich über die Taten informiert war und möglicherweise sogar der „vierte Mann“im zynischen Bekennervideo des NSU gewesen sein könnte. Von der Beihilfe zum versuchten Mord sprach ihn der Senat frei, sodass er nur wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu verurteilen war. Der gesetzliche Strafrahmen von zehn Jahren wurde nicht annähernd ausgeschöpft, Eminger wurde mit einem Strafmaß von zweieinhalb Jahren geradezu belohnt, sein Haftbefehl aufgehoben.
Nach einem kurzen, ungläubigen Schweigen brandete Applaus unter den Neonazis auf der Tribüne auf. Das Klatschen der Neonazis und die verzweifelten Schluchzen der Hinterbliebenen haben in einem der wichtigsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte den Schlussakkord gesetzt. Nein, das kann kein Schlussstrich sein!