DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS
54. FOiTtETZUNG
srank würde garantiert nicht aus Australien anreisen, um die Stiefmütterchen auf ihren Gräbern zu gießen. Er kam ja nicht einmal jetzt, wo sie noch am Leben waren. Ach, was hing sie hier für morbiden Gedanken nach. Wer wusste überhaupt, wie man die Leute in dreißig, vierzig Jahren beerdigen würde. Vielleicht wurden sie dann vakuumverpackt und ins Weltall geschossen oder …
„Schieb mal ganz doll und lass dann los“, verlangte Gregor. „Mal sehen, wie schnell ich damit fahren kann.“
„Also, ich weiß nicht …“Judith sah sich unschlüssig um. War das nicht ein bisschen pietätlos? Auf einem sriedhof einen Rollstuhl durch die Gegend zu jagen? „Bitte!“
Es war niemand zu sehen. Und die Toten störten sich bestimmt am allerwenigsten daran. „Okay.“Judith rannte ein Stück und stieß dann den Rollstuhl mit aller Kraft von sich. Er sauste wie ein Torpedo davon, der Weg führte einen kleinen Hang hinunter. Sie hörte Gregor juchzen. Auf was für Ideen der Junge immer kam. Sie lächelte.
Gregor kam zurück und schob den Rollstuhl vor sich her. „Jetzt du!“
„Auf gar keinen sall.“Judith wehrte lachend ab. Das fehlte noch.
„Bitte, Judith, bitte! Es ist toll. Es ist wie sliegen.“
„Gregor, sei nicht albern, ich setz mich doch jetzt nicht da rein.“„Warum denn nicht?“„Weil …“Es gab keinen Grund. Es gab nur tausend mehr oder weniger vernünftige Einwände und ihre Hemmung. „Bitte!“
Ach, verdammt, warum eigentlich nicht? Judith schüttelte lachend den Kopf, setzte sich aber in den Rollstuhl, hörte Gregor begeistert schnaufen, während er Anlauf nahm und dann mit Wucht den Rollstuhl von sich wegschubste und Judith den Weg hinunterschickte. Sie raste, vorbei an Gräbern voller Engel und Blumenbeete, vorbei an Efeu und Kränzen, über einen kleinen Buckel, wo der Rollstuhl hopste und fast umgendwie, kippte, und dann den Weg entlang weiter, der immer breiter wurde und in den Parkplatz vor dem sriedhof mündete. Dort schoss sie zwischen zwei Büschen auf den gekiesten Platz hinaus und kam endlich zum Stehen. Eine Gruppe Trauergäste in Schwarz stand auf der anderen Parkplatzseite und sah sie fassungslos an.
Judith stand auf, klappte den Rollstuhl zusammen und nickte den Leuten würdevoll zu. „Mein Beileid.“
Dann machte sie, dass sie wegkam, bevor sie in unkontrolliertes Kichern ausbrach.
18 Na klasse. Sophie Regner hatte die E-Mail nun schon drei Mal gelesen, aber natürlich veränderte sich deren niederschmetternde Botschaft dadurch in keinster Weise. Es war eine Absage, auch wenn der Absender sie mit blumigen Worten garniert hatte und alles auf die harten Zeiten schob. saule Ausreden. Im Musikgeschäft waren es schon immer harte Zeiten gewesen, schon seit Elvis noch in Windeln herumgetorkelt war, verdammt noch mal. Und trotzdem schafften es ständig Leute, ganz nach oben zu kommen, dorthin wo die Millionen zu holen waren. Oder wenigstens die fünfstelligen Beträge. Wütend steckte sie sich eine Zigarette an, obwohl sie doch eigentlich versuchte, tagsüber nicht zu rauchen. Wegen Jonas, aber der war mit den beiden rumänischen Jungs in seinem Zimmer und mit dem Jungen von Krauses, diesem Gregor, der ihr immer wie ein freundliches dickes Wesen von einem anderen Planeten vorkam. Er war eigentlich viel älter als Jonas, aber geistig ir- nun ja …
Helle Stimmen erklangen aus dem Kinderzimmer und wurden lauter, einer der Jungen machte das Geräusch eines Kampfhubschraubers nach. Sophie blies den Rauch aus und schloss kurz die Augen. Und nun? Was sollte sie machen? Noch mehr DemoCDs verschicken, bloß um wieder keine Antwort zu bekommen oder solche nichtssagenden Absagen wie diese hier zu kassieren? Sie war jetzt neunundzwanzig Jahre alt, sie hatte eine großartige Stimme, spielte Klavier, Gitarre und Akkordeon, komponierte alle ihre Songs selbst und hatte ein Repertoire von Blues über Chanson bis zu Rock drauf, aber irgendwie brachte sie nichts davon weiter und keiner wollte richtig anbeißen. Ihr Name wurde nicht als Geheimtipp gehandelt, die großen Plattenlabels umwarben sie nicht und für ein heißes Nachwuchstalent war sie mittlerweile – so schmerzlich es auch war – zu alt. Was sie brauchte, war ein neues Image, eine neue Richtung und jemanden, der ihr half und sie groß herausbrachte.
Sie stand auf, um sich ein Glas Wasser aus der Küche zu ho-len, und schmiss dabei versehentlich den Stapel der Demo-CDs auf dem Tisch um. Beinahe wären sie in den Mülleimer gerutscht. War das ein Zeichen einer höheren Macht?
„Das ist eine echte Erfindung“, kam es aus dem Kinderzimmer, dessen Tür leicht offen stand. „Die hat Herr Walter erfunden.“Das musste Gregor sein.
„Der Stinkerwalter“, ergänzte eine Stimme mit leichtem Akzent. Es war Lucian, einer der Rumänenjungs, wie es sich anhörte. Amüsiert blieb sie stehen.
„Und wozu soll die gut sein?“, erkundigte sich jetzt ihr Jonas.
„Man kann damit essen. Schau.“Etwas klapperte, Gelächter erklang, danach ein erwartungsvolles Grunzen von Alfie, dem Mops, der offenbar nur das einzige Wort herausgefiltert hatte, das er verstand: Essen. FOiTtETZUNG FOLGT