Nordwest-Zeitung

Wenn die Ausnahme normal wird

Nach zwei Jahren lässt Erdogan den Notstand auslaufen – 4och es ändert sich wenig

- VON CHRISTINE-FELICE RÖHRS

Viel Zeit, sich an die neue Freiheit zu gewöhnen, bleibt der Türkei nicht. Nur Stunden nach dem Auslaufen des Ausnahmezu­stands beraten Politiker schon über ein Anti-Terror-Gesetz.

ANKARA Partys gibt es nicht in der Nacht. Als um 1 Uhr morgens Ortszeit der Ausnahmezu­stand ausläuft, ist es grabesstil­l im Land. Die Türkei verschläft die ersten Stunden ohne den „Olaganüstü Hal“(OHAL), den „außerorden­tlichen Zustand“, der das Leben von vielen Zehntausen­d Türken schwer gezeichnet hatte. Viele Türken hatten schon vor dem Stichtag geglaubt, dass das Leben im „Normalzust­and“sowieso keine Änderung bringt. Seit Tagen machen in sozialen Medien Wortspiele die Runde wie: „OHAL geht, aber O HAL kommt“– „Der Notstand geht, aber ,dieser Zustand’ kommt.“

Mit diesem Zustand meinen sie die Unterordnu­ng ihres Alltags unter den Primat der Sicherheit. Zwei Jahre sind vergangen nach dem Putschvers­uch von 2016 – der „Kampf gegen den Terror“bleibt der blutrote Faden der türkischen Politik.

Viel Zeit, sich an die neue Freiheit zu gewöhnen, bleibt tatsächlic­h nicht. Zehn Stunden nach dem Ende des Ausnahmezu­stands trifft sich am Donnerstag­morgen schon die Justizkomm­ission des Parlaments in Ankara, um einen neuen Gesetzesen­twurf zu besprechen, der helfen soll, „den Kampf gegen den Terror auch im Normalzust­and weiterzufü­hren“. Er scheint Regeln, die im Ausnahmezu­stand galten, auch für die Zukunft festschrei­ben zu wollen. Eine würde die Versammlun­gsfreiheit beschneide­n, eine weitere Teile der Machtfülle der Gouverneur­e aus der Zeit des Notstands permanent machen, eine andere scheint mehr Entlassung­en aus dem Staatsdien­st vorzuberei­ten. Das Gesetz werde den Ausnahmezu­stand um Jahre ver- längern, merkt der Sprecher der pro-kurdischen Opposition­spartei HDP bitter an.

Aber die Stimmung im Land liegt irgendwo zwischen Apathie und Desinteres­se. Mitglieder der Regierungs­partei AKP sagen, 70 Prozent der Türken hätten den Ausnahmezu­stand begrüßt und gewollt. Die Anti-Terror-Agenda von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hat wohl wirklich bei vielen Menschen Anklang gefunden – sie hatten ihn auch deswegen bei den Wahlen am 24. Juni mit 52,6 Prozent Zustimmung als Präsident wiedergewä­hlt.

Aber Regierunge­n und Menschenre­chtsorgani­satio- nen kritisiere­n, dass Erdogan den Ausnahmezu­stand auch dazu genutzt habe, seine Macht auszubauen und kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Can Dündar, der in Deutschlan­d exilierte Ex-Chef der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“, twittert von einem„Imperium der Angst“.

Terminüber­blicke kündigen am Donnerstag neue Prozesse gegen „Terroriste­n“der Gülen-Bewegung in den Städten Ankara, Istanbul, Izmir, Sakarya and Bolu an. Staatspräs­ident Erdogan hatte die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen für den Putschvers­uch verantwort­lich ge- macht. Der Notstand bleibt Normalzust­and.

Die Welt reagiert um einiges emotionale­r als die Türkei. Die EU-Kommission verschickt am Donnerstag­mittag eine scharfe Mahnung. Man begrüße das Auslaufen des Ausnahmezu­stands. Zugleich würden „positive Effekte gedämpft“durch das geplante Anti-Terror-Gesetz, das „zahlreiche restriktiv­e Elemente aus dem Ausnahmezu­stand“beibehalte­n würde. Außenminis­ter Heiko Maas schlägt in dieselbe Kerbe: Es dürfe keine Verlängeru­ng des Ausnahmezu­stands durch die Hintertür geben, sagt er.

Ob das die türkische Führung beeindruck­t, ist fraglich. Mustafa Yeneroglu, Abgeordnet­er von Erdogans Regierungs­partei AKP, sagt, es sei für die Türkei eine „nachrangig­e Frage“, ob sie für das neue Gesetz Kritik einstecke oder nicht. „Wenn in Deutschlan­d jede Woche ein Mensch in einem Terroransc­hlag sterben würde, dann gebe es auch in Deutschlan­d eine andere Gesetzgebu­ng“, sagte er. „Stellen Sie sich vor, jeder Minister müsste einmal die Woche an der Begräbnisz­eremonie eines Terroropfe­rs teilnehmen.“Da müsse man sich mal hineinvers­etzen.

Aber der Graben zwischen der Türkei und Europa ist breit geworden über zwei Jahre Ausnahmezu­stand. Vielleicht zu breit, um sich noch leicht ineinander hineinzuve­rsetzen. Die Aufhebung des Ausnahmezu­stands scheint daran erst einmal nicht viel zu verändern.

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DPA-BILD: GUREL 16. Juli 2018 in Istanbul: Menschen schwenken Fahnen bei einer Veranstalt­ung zum zweiten Jahrestag des Putschvers­uchs.
 ?? DPA-BILD: SUNA ?? 16. Juli 2016 in Istanbul: Erdogan-Anhänger feiern nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch.
DPA-BILD: SUNA 16. Juli 2016 in Istanbul: Erdogan-Anhänger feiern nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch.

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