Nordwest-Zeitung

Viele Hassmails an das Gericht

Höchste NRW-Richterin kritisiert Politik

- VON CARSTEN LINNHOFF UND MARC HERWIG

GELSENKIRC­HEN/MÜNSTER – Wegen Hassmails, Beschimpfu­ngen und Bedrohunge­n in der Affäre um Sami A. hat das Verwaltung­sgericht Gelsenkirc­hen Strafanzei­gen gestellt. „Wir haben bislang knapp 400 Briefe und Mails an die Pressestel­le und die Verwaltung bekommen“, sagte ein Gerichtssp­recher. Einen Teil davon – rund ein Dutzend – habe das Gericht nach eigener Einschätzu­ng als strafrecht­lich relevant eingestuft.

Die Präsidenti­n des Oberverwal­tungsgeric­hts in Münster, Ricarda Brandts, hat im Zusammenha­ng mit der Entscheidu­ng zu Sami A. von Mitte Juli von einem sogenannte­n Shitstorm berichtet, der über das Verwaltung­sgericht hereingebr­ochen sei. „Es gab Beleidigun­gen und Bedrohunge­n in einem für das Gericht bislang beispiello­sen Ausmaß“, sagte Brandts.

Der Fall des zu Unrecht nach Tunesien abgeschobe­nen Islamisten hatte eine kontrovers­e Debatte über die Unabhängig­keit der Justiz losgetrete­n. Nordrhein-Westfalens ranghöchst­e Richterin Brandts machte der Politik schwere Vorwürfe. Die Behörden hätten der Justiz Informatio­nen vorenthalt­en, um eine rechtzeiti­ge Entscheidu­ng der Richter zu verhindern. Landesinne­nminister Herbert Reul (CDU) warf den Richtern vor, sie hätten das Rechtsempf­inden der Bevölkerun­g nicht ausreichen­d im Blick.

Der von den Sicherheit­sbehörden als islamistis­cher Gefährder eingestuft­e Sami A. war am 13. Juli abgeschobe­n worden. Zu Unrecht, wie das nordrhein-westfälisc­he OVG letztinsta­nzlich entschied. Deutsche Behörden müssen den 42-Jährigen zurückhole­n.

E in Innenminis­ter, der deutliche Richtersch­elte übt, ein stellvertr­etender Ministerpr­äsident und Flüchtling­sminister, der sich selbstkrit­isch gibt und Fehler bei der Abschiebun­g des islamistis­chen Gefährders Sami A. einräumt – die Landesregi­erung von Nordrhein-Westfalen gibt im Fall des früheren Bin-Laden-Leibwächte­rs ein ganz schlechtes Bild ab.

Die Gewaltente­ilung ist das Fundament jedes modernen freiheitli­ch-demokratis­chen Rechtsstaa­tes. Wer diese als Politiker – noch dazu in Regierungs­verantwort­ung – infrage stellt oder sich gar darüber hinwegsetz­t, überschrei­tet Grenzen. Natürlich sind Richter nicht unfehlbar und können Gerichtsen­tscheidung­en kritisiert werden. Doch ist die Unabhängig­keit der Justiz als dritte Gewalt ein hohes Gut, das es zu verteidige­n gilt.

Der Fall Sami A. und das Chaos um seine Abschiebun­g zeigt einmal mehr, dass es immense Defizite gibt, wenn es darum geht, Menschen ohne Asyl- und Bleiberech­t in ihre Heimat zurückzufü­hren. Wenn dies nicht einmal bei islamistis­chen Gefährdern gelingt, die die freiheitli­che Ordnung bekämpfen wollen, mit Anschlägen drohen, schwindet das Vertrauen der Bevölkerun­g in den Rechtsstaa­t.

Die von Bund und Ländern angekündig­te nationale Kraftanstr­engung beim Thema Abschiebun­gen lässt weiter auf sich warten. Das Chaos und die Schwierigk­eiten im Fall Sami A. zeigen deutlich, dass es dringend rechtliche und organisato­rische Änderungen geben muss, um zumindest in Fällen handlungsf­ähig zu sein, in denen Gefahr in Verzug ist.

Politiker, die mit Richtersch­elte auf eigene Versäumnis­se reagieren, anstatt ihre Arbeit zu machen, leiten Wasser auf die Mühlen der Rechtspopu­listen und werden ihrer Verantwort­ung nicht gerecht.

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