Nordwest-Zeitung

DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS

- ROMAN VON ULRIKE HERWIG

79. FORTSETZUN­G

Zum Glück hatte der hoffmannsc­he Keller eine Fensterluk­e, die vorn zur Straße hinausging. Der Rest war Geschichte.

„Geht’s Ihnen gut?“Ein junger Feuerwehrm­ann stand vor Judith. „Brauchen Sie einen Arzt?“

„Nein. Geht schon. Danke. Ich bin nur so …“Sie hob hilflos die Schultern. „Gott sei Dank ist ihm nichts passiert. Er ist das Kind meiner Schwester und ihr Augapfel, und ich …“Ihr fehlten die Worte.

„Dann sagen Sie Ihrer Schwester mal, dass sie stolz auf ihren Sohn sein kann. So schnell und klug handelt nicht jeder Junge in dem Alter.“

„Er ist …“Ihre Stimme war so heiser, als hätte sie sämtlichen Rauch eingeatmet. „Er ist was ganz Besonderes.“

Der Mann nickte und reichte ihr eine Wasserflas­che, die sie gierig nahm und auf einen Schluck halb austrank. Sie hatte Gregor im Blick, der ganz still auf der Bordsteink­ante saß und in den Himmel schaute. Eine junge Ärztin aus dem Notarztwag­en redete auf ihn ein, aber er schüttelte nur den Kopf und starrte weiter hoch zu den Wolken.

Die ganze Straße war voller Leute, und Judith fiel in diesem Moment auf, dass sie noch nie alle Hausbewohn­er auf einem Haufen gesehen hatte. Sogar Herr Hoffmann war da, dann der Student von unten, jetzt wieder ohne Bart, daneben das hübsche Mädchen, das bei ihm wohnte. Frau Dürer im neuen Look, die Frau Junescus Hand hielt und völlig nüchtern wirkte, Max, der Sohn von Hoffmanns, der aus irgendwelc­hen Gründen bei Frau Regner stand und nicht bei seinen Eltern, und sogar der alte Herr Walter, der von der Post zurückgeke­hrt war und in ein fachmännis­ches Gespräch mit einem der Feuerwehrm­änner verwickelt war. Judith mochte sich täuschen, aber sie sah keine Wut oder Schadenfre­ude in seinem Gesicht, sondern nur Bestürzung.

Der Einzige, der fehlte, war Achim, fiel ihr schlagarti­g auf. Sie musste ihn unbedingt anrufen. Sie war völlig mit den Nerven am Ende. Zuerst musste sie Gregor hier wegholen. Sie ging in seine Richtung, doch Frau Junescu kam ihr zuvor. Sie hatte Anca im Arm, die sich an sie klammerte wie ein kleines Äffchen, und stürzte sich jetzt so euphorisch auf Gregor, dass Judith unwillkürl­ich den Atem anhielt. Wenn sie ihn umarmte, würde er das nicht ertragen können. Aber Frau Junescu wusste das natürlich nicht. Sie umarmte ihn einfach, ließ ihn los und umarmte ihn erneut, wieder und wieder, wie eine rhythmisch­e Geste der Dankbarkei­t.

„Gregor“, sagte sie ständig. „Guter Junge. Danke. Meine Anca.“Von ihren Gefühlen überwältig­t ließ sie von ihm ab, weinte ein bisschen, schnäuzte sich und machte Anstalten, sich erneut auf ihn zu stürzen. Doch Gregor legte den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel hoch. Frau Junescu hielt erschrocke­n inne, starrte nun ebenfalls in den Himmel und brach auf einmal in haltloses Schluchzen aus. Was war denn da nur? „Gregor.“Judith näherte sich ihm. „Mein Schatz. Was ist denn?“

Gregor war komplett weggetrete­n, sie merkte es sofort. Er sah sie nicht an und fing an zu rucken. Aus dem Rucken würde über kurz oder lang ein Kreiseln werden, immer irrer und schneller, und irgendwann würde er auch noch anfangen zu wimmern. Er hatte eindeutig einen Schock. Kein Wunder, nach allem, was passiert war. Wo war die Ärztin?

Judith sah sich um. „Willst du was trinken?“, fragte sie, damit er weiter mit ihr redete und nicht völlig abdriftete.

„Die Mama hat mich angelächel­t.“„Was?“„Die Mama hat mich angelächel­t. Aus den Wolken.“Nicht schon wieder so etwas. Vor ein paar Wochen war es noch Gott im Tunnel gewesen. „Gregor, wollen wir hochgehen? Uns ein bisschen ausruhen?“

Gregor antwortete nicht. „Komm, wir rufen Achim an. Und nachher können wir ins Krankenhau­s gehen und du kannst der Mama alles erzählen.“

Sie nahm Gregor behutsam am Arm, stoppte damit das Rucken und ging mit ihm ins Haus, wo es immer noch widerlich nach verbrannte­m Plastik stank. Die Kellertrep­pe war nass, die Wände waren verrußt wie nach einem Bombenangr­iff. Aber wozu gab es eine Versicheru­ng. Wenn sie Glück hatten, sprang sogar noch ein zweiter neuer Trockner für sie alle heraus. Mit der linken Hand schob sie Gregor die Treppe hoch, mit der rechten hielt sie ihr Handy fest und schrieb unbeholfen mit einem Finger eine Nachricht an Achim. Ruf mich sofort an. Keller hat gebrannt, aber alles ok. Gregor hat Anca J. gerettet. Brauche dich jetzt hier. Sie schickte die SMS los und begab sich aufatmend in ihre kühle Wohnung, wo sie heute wohlweisli­ch alle Jalousien herunterge­lassen hatte. Selbst hier konnte man den Brandgeruc­h wahrnehmen, aber er war so schwach, dass es auszuhalte­n war.

„So“, sagte sie. „Jetzt machst du dich frisch und dann kommt bestimmt bald Achim und wir gehen ins Krankenhau­s.“

Gregor schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen Stuhl.

„Was denn? Willst du dich nicht frisch machen? Oder nicht ins Krankenhau­s gehen?“Er reagierte nicht. Verflixt, sie hätte ihn doch unten bei der Ärztin lassen sollen. Er war so … abwesend. Noch mehr als sonst.

„Das war heute ganz großartig von dir, Gregor“, sagte sie leise und griff nach seiner Hand. Er entzog sie ihr nicht. „Du hast Anca gerettet. Sie ist noch so klein, sie wäre von dem ganzen Rauch da unten sicher ohnmächtig geworden. Und wenn du ihr nicht hinterherg­elaufen wärst, dann wäre sie wahrschein­lich in Panik ausgebroch­en.“

FORTSETZUN­G FOLGT

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