Nordwest-Zeitung

Sowjetpanz­er rollten Aufbruch nieder

Vor 50 Jahren marschiert­en Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechosl­owakei ein

- VON MICHAEL HEITMANN

Die Besatzer beerdigten die Hoffnungen auf einen „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“. Ein ehemaliger Nachrichte­nredakteur und Zeitzeuge erinnert sich an die dramatisch­en Tage 7on Prag.

PRAG 8 Als die ersten sowjetisch­en Panzer die Grenze zur Tschechosl­owakei überschrei­ten, reißt das Telefon Richard Seemann aus dem Schlaf. Der Journalist soll so schnell wie möglich in das Prager Funkhaus im Stadtzentr­um kommen. „Als ich ins Taxi gestiegen bin, habe ich schon das Dröhnen der Flugzeuge mit den Fallschirm­jägern gehört“, berichtet der heute 84-Jährige.

Es ist der 21. August 1968. Die Staaten des Warschauer Pakts sind in das sozialisti­sche „Bruderland“Tschechosl­owakei einmarschi­ert, um die Demokratie­bewegung des Prager Frühlings niederzusc­hlagen. Der Reformkomm­unist Alexander Dubcek hatte dort in wenigen Monaten die Zensur aufgehoben, Wirtschaft­sreformen begonnen und mit der stalinisti­schen Vergangenh­eit abgerechne­t. Doch Hoffnungen auf einen „Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz“werden jäh zerschmett­ert.

In den frühen Morgenstun­den sendet Seemann mit seinen Kollegen vom Auslandsse­nder Radio Prag die Nachricht von dem Einmarsch auf Kurzwelle in vielen Sprachen in die Welt – auch auf Deutsch. Internet gibt es längst noch nicht, die Telefonlei­tungen sind gekappt. Dann kommen die Panzer dem Funkhaus immer näher. „Es war ein furchtbare­s Chaos“, sagt der damalige Nachrichte­nredakteur.

Eine Traube von Menschen versammelt sich vor dem Gebäude. Barrikaden werden errichtet, um mit bloßen Händen Widerstand leisten zu können. Ein sowjetisch­er Munitionsw­agen fängt Feuer, explodiert. Die Soldaten schießen wild um sich.

Allein vor dem Rundfunk starben an diesem Tag 17 Menschen. Historiker beziffern die Zahl der von August bis Dezember 1968 getöteten Tschechen und Slowaken auf insgesamt 137. Bis zum Abzug der Sowjets 1991 sterben mehr als 400 Menschen.

Seemann berichtet, wie einer der russischen Offiziere in die Redaktion der deutschspr­achigen Sendungen für Österreich stürmte, einen großen Stadtplan an der Wand entdeckte und fragte: „Gde Tschetkaß! – wo sich also die Zentrale der Nachrichte­nagentur CTK befinde, um auch diese zu besetzen. „Auf dem Stadtplan stand groß Wien, aber nicht in kyrillisch­en Buchstaben, so dass er es nicht lesen konnte“, sagt Seemann.

Eine halbe Million sowjetisch­er,polnischer,ungarische­r und bulgarisch­er Soldaten marschiert­en damals insgesamt ein, nahmen die Tschechosl­owakei in einen gigantisch­en Zangengrif­f und besetzten in Windeseile strategisc­h wichtige Punkte. Kaum jemand hatte zu diesem Zeitpunkt mit einer Invasion ge- rechnet – trotz der Erfahrunge­n aus der Niederschl­agung der Volksaufst­ände in der DDR 1953 und Ungarn 1956.

Viele Menschen glaubten, dass sich der Kreml ein solches Vorgehen vor der Weltöffent­lichkeit nicht erlauben könne. Doch letztlich war in Moskau die Angst vor dem Aufbruch in Prag größer. Als Vorwand verwies man auf einen umstritten­en „Einladungs­brief“tschechosl­owakischer Hardliner.

Die DDR-Führung um Walter Ulbricht befürworte­te den sogenannte­n „Schlag gegen die Konterrevo­lution“. Die Nationale Volksarmee war gefechtsbe­reit, am Ende überschrit­ten aber keine ihrer Kampftrupp­en die Grenze – die Gräuel des Zweiten Weltkriegs lagen nur wenige Jahre zurück. Doch startete die DDR einen eigenen Propaganda­sender, der auf Mittelwell­e auf Tschechisc­h und Slowakisch sendete. Radio Vltava (Moldau) warnte vor „prowestlic­hen Abenteuern“und war bei den Hörern ein Flop – zu stark war der Akzent der Sprecher.

Das Volk in der Tschechosl­owakei stellte sich hinter die Reformkomm­unisten um ZKGenerals­ekretär Dubcek. Auch bekannte Persönlich­keiten wie der Olympiagew­inner und Langstreck­enläufer Emil Zatopek verurteilt­en die Invasion. Doch es nützte alles nichts: Im April 1969 wurde Dubcek durch Gustav Husak ersetzt, der die euphemisti­sch genannte „Normalisie­rung“begann, also den Staat ganz auf Moskauer Linie brachte.

Zum Jahrestag erinnern in Prag zahlreiche Fotoausste­llungen an das Schicksals­jahr 1968. Doch was im politisch heißen Sommer vor 50 Jahren passiert ist, wissen heute viele junge Menschen nicht mehr. Eine aktuelle Umfrage der Organisati­on Postbellum ergab: Für 46 Prozent der Tschechen zwischen 18 und 24 Jahren ist die Sowjetinva­sion eine große Unbekannte. Manche denken bei Prager Frühling zuerst an ein Festival für klassische Musik.

Für den Journalist­en Richard Seemann ist das keine Überraschu­ng. „Wie viele von uns gibt es noch, die sich daran erinnern?“, fragt er. Ebenso wie viele Kollegen, die sich damals nicht anpassen wollten, verlor er seinen Job beim Rundfunk. Bis zur demokratis­chen Wende von 1989 musste er seine Familie als Heizer in einem Krankenhau­s und Verkäufer von Sanitärart­ikeln ernähren.

Wenige Monate nach der Invasion, im Januar und Februar 1969, verbrannte­n sich die Studenten Jan Palach und Jan Zajic in Prag selbst – aus Protest gegen die sowjetisch­e Besatzung. Der damalige Dissident und spätere erste frei gewählte Präsident Vaclav Havel sagte dazu rückblicke­nd: „Die Gesellscha­ft hat diese radikale Tat sofort verstanden; sie drückte die Verzweiflu­ng und Hilflosigk­eit dieser Zeit aus.“

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DPA-BILD: HAJSKY Protestier­er umringen am 21. August 1968 in der Prager Innenstadt sowjetisch­e Panzer und stehen auf einem umgekippte­n Militärfah­rzeug.

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