DAS LEBEN IST MANCHMAL WOANDERS
81. FORTSETZUNG
Judith sah ihn wieder vor sich, wie er auf der Beerdigung seiner Mutter den Indianer-Poncho trug, wie er sich daran festhielt, wie er zum Schluss den Grabstein – eine Baumgruppe aus Basaltsteinen – streichelte.
Gregors Vater glänzte auch bei diesem Anlass durch Abwesenheit, aber wenigstens hatte er auf juristische Nachfragen reagiert. Nein, er habe kein Interesse am Sorgerecht für seinen Sohn oder überhaupt an dem Jungen. Du Arschloch, dachte Judith. Du weißt überhaupt nicht, welchen Schatz dir das Leben da anbietet, den du ausschlägst. Zwei Tage nach Marlenes Tod hatte Judith es für sich entschieden, von Schmerz und Hilflosigkeit überwältigt, und während Gregor in Franks Zimmer lag, das nun doch kein Gästezimmer werden würde, und laut weinte. „Ich will das Sorgerecht für Gregor, Achim. Ich schicke ihn nicht zu fremden Leuten. Auf gar keinen Fall.“
Achim hatte geschwiegen und Judith wappnete sich schon für alle möglichen Einwände und vor allem für ein „Lass uns das noch mal genau überlegen. Vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit.“Aber Achim sagte gar nichts. Er sah sie an, sein Gesicht hagerer als noch vor kurzer Zeit, als sie ihn für Gregor gezeichnet hatte. vnd dann hatte er nach ihrer Hand gegriffen und sie stumm gedrückt.
Sie blätterte weiter in dem Album, hielt gelegentlich inne, lächelte oder weinte noch ein bisschen. Da war Marlene mit dem neugeborenen Gregor, einem pummeligen Baby mit ernstem Gesichtsausdruck und einem Haarwirbel auf dem Kopf, und daneben stand sie selbst, Judith, mit dem vierzehnjährigen Frank, der schon einen Hauch genervter Langeweile im Blick hatte. Im Jahr zuvor war die Pubertät bei ihm ausgebrochen wie die Vogelgrippe und hatte sie alle in einen Strudel aus Streit und Missverständnissen geschleudert, dem sie bis heute nicht entkommen waren.
Judith legte das Album hin. Sie musste Frank anrufen, es war längst überfällig. Immerhin war Marlene seine Tante gewesen, auch wenn sie sich nie viel zu sagen gehabt hatten. Zweimal hatte Judith schon dazu angesetzt. Sie war bis zum Telefon vorgedrungen, hatte den Hörer abgenommen und kurz davorgestanden, Franks Nummer zu wählen. Aber jedes Mal verließ sie der Mut. Seit über drei Jahren gab es keinen Kontakt mehr zu Frank. vnd da sollte sie jetzt mit ausgerechnet dieser Nachricht wieder in sein Leben treten? Es ging einfach nicht.
Sie stand auf, sie brauchte frische Luft. Draußen auf dem Balkon atmete sie tief durch. Es wurde Herbst. Die sommerliche Hitze war vorbei, geblieben war ein goldener Altweibersommer, mit Spinnweben überall und morgendlichem Nebel, der von zaghaften Sonnenstrahlen erlöst wurde. Ein Herbst zum Dahinschmelzen. Marlene hätte ihn geliebt.
Ein Männerlachen schallte von der Straße her hoch. Es war – man glaubte es kaum – Herr Walter, der neuerdings irgendein florierendes Internet-Business betrieb. Judith verstand nicht ganz, worum es da ging, doch die Schwiegermutter von Hoffmanns war wohl der Anstoß dazu gewesen, und was immer es auch war, es schien Herrn Walter gutzutun. Der Mann konnte offenbar tatsächlich noch lachen und Scherzchen treiben, und zwar ausgerechnet mit Frau Dürer. Judith beugte sich ein Stück vor, um besser sehen zu können. Die Dürer sah schlanker aus. Gepflegter. Ihr Blick war klarer. Sie machte jetzt auch irgendwas mit der Mutter von Jonas Regner zusammen, irgendwas mit Musik. vnd das schöne Mädchen von dem Studenten unten war vor Kurzem mit säuerlicher Miene ausgezogen. Darüber war Lars seltsamerweise gar nicht traurig, obwohl sie manchmal den Eindruck gehabt hatte, dass er schwer in das Mädchen verknallt gewesen war.
Aber Lars arbeitete jetzt in der Ausländerbehörde, er machte da ein Praktikum, hatte er ihr erzählt. vnd dass es unglaublich interessant sei und ihm Spaß mache. Er wirkte gut gelaunt – fast so gut gelaunt wie Frau Hoffmann, von der eine Last abgefallen zu sein schien. Bei ihr gab es keinen Streit mehr über die unselige Laube, dafür frisch geerntetes Obst von Frau Junescu. vnd die Schwiegermutter war viel friedfertiger geworden, sie konnte allein essen und stundenlang mit Frau Junescu über die herrliche Laube schwatzen.
So vieles hatte sich verändert. Alle Leute aus dem Haus hatten sich verändert, sie und Achim auch. vnd komischerweise genau seit dem Zeitpunkt, seit Gregor zu ihnen gestoßen war, obwohl Judith nicht so richtig sagen konnte, warum. Er war doch nur ein Kind.
vnten fuhr jetzt ein Lieferwagen vor, irgendjemand bekam wohl ein Paket. Kurz darauf klingelte es. Doch statt dem Paketdienst stand Frau Hoffmann vor der Tür.
„Frau Krause“, keuchte sie, käsebleich im Gesicht. „Entschuldigen Sie, bitte. Ich weiß, Sie haben im Moment Ihre eigenen Probleme, aber jetzt schauen Sie sich doch um Gottes willen mal an, was vor meiner Tür stand!“Sie deutete auf einen Korb, aus dem eine Flasche Wein ragte und in dem zugedeckt noch etwas anderes lauerte. „Von den Junescus. Ich weiß, die meinen es gut, aber …“Mit unverhohlenem Ekel riss sie das Geschirrtuch weg und Judith machte einen erschrockenen Schritt zurück.
„Du lieber Himmel!“, entfuhr es ihr.
FORTSETZUNG FOLGT