ALICIA JAGT EINE MANDARINENTE
13. FORTSETZUNG
Immer noch stand sie starr im Türrahmen, jetzt fühlte sie sich ungeheuer matt, als wäre sie fast ertrunken. Die Stille kehrte zurück, sogar die eigene Armbanduhr konnte sie ticken hören. Sie hätte gern aufgeschluchzt, aber ihr ganzer Organismus schien vertrocknet. In ihren Schläfen ballte sich der Schmerz zusammen. Einzelne Worte tanzten ihr durch den Kopf: Sinn – Ente – Peking – bei deinem Arsch – ganz stier. Ein Fragment. Das sich zusammensetzen ließe, stellte sie fest und presste die Hände an den Schädel. Nicht von Theo, dem Mann. Männer sehen Fußball an, reden über die Verhältnisse in der Dritten Welt und vergessen viel. Von ihrer Mutter dagegen sofort. Auch von Alicia. Wenn Alicia von diesem gelben Zettel erführe … die Panik ergriff sie. Alicia würde die Bruchstücke zusammenfügen und weiter forschen und nicht aufgeben, bis sie die ganze Wahrheit hätte. Nicht nur die Wahrheit. Alicia und ihr fester Wille. Was, wenn ihr nun einfiel, diese Ente zu besorgen? Ging das? Kontaktaufnahme, Bestellung, Frachtdienst? Irgendwo in einem chinesischen Geschäft jedenfalls wartete eine Ente darauf, gekauft zu werden, vielleicht war sie schon versehen mit einer Gravur, eine Adresse dazu gab es bequemerweise auch noch: Peking, Tang Lala irgendwas. Sicher würde Alicia diese Ente inspizieren, bevor sie sie ihr übergäbe. Und dann wüsste sie Bescheid.
Sie rieb sich die Schläfen, schaute sich um. Sie wollte den Zettel noch einmal ansehen, noch einmal lesen, aber er war nicht mehr da. Theo musste ihn zusammen mit den Notizen eingesteckt haben.
Lai Fang Lei DURCH DEN FROST IM WINTER war der Boden gut vorbereitet. Als Lai Fang Lei ihn mit der Harke bearbeitete, fiel die Erde in schwarzen Brocken auseinander. Regenwürmer wanden sich auf den Klumpen. Seine Familie besaß noch mehr Ackerland am Dorfrand, heute hatte er nur die drei mu hinter seinem Haus pflügen können. Aber Bohnen und Mais kamen sowieso erst in zwei Wochen dran.
Er legte die Hacke beiseite, holte das große Sieb und lehnte es an den Pflaumenbaum am südlichen Ende des Ackers. Dann lud er die Schubkarre voll mit Erde, fuhr sie dicht an das Sieb und begann, die speckigen Klumpen gegen das Sieb zu werfen. Es war harte Arbeit, Lai spürte, wie ihm Schweißtropfen in die Augen rannen und legte den Kopf in den Nacken. Oberhalb seines Hauses schwang sich die Große Mauer durch die Berge, zwischen dem Mädchenturm und dem Pekingblickturm genau über der Himmelsbrücke stand reglos eine weiße Wolke.
Hier war er geboren und aufgewachsen, er kannte die Mauer so gut wie sein Haus, die restaurierten Teile ebenso wie die Wilde Mauer. Vor vier Jahren hatte er mitgeholfen, das Stück zwischen Jinshanling und Simatai auszubauen. Sie sammelten die alten Steine, rührten Mörtel an und flickten die Stellen, wo Wind und eingewachsene Bäume die Mauer geschliffen und zersprengt hatten. An einer Stelle hatte er einen Stein mit einem alten Schriftzeichen gesetzt. Es war ein besonderer Moment gewesen, obwohl weder er noch seine Kollegen das Zeichen lesen konnten. Es mochte zweitausend Jahre alt sein, wer wusste das schon. Jedes Mal wenn er Gäste auf diesen Mauerabschnitt führte, machte er kurz halt, um seinen Stein mit dem Zeichen zu grüßen.
Letzten Monat hatte er zwei japanische Touristen über die Himmelsleiter geführt. Die Japaner waren trai- niert, sie schafften das schwierige Stück, ohne dass er sich sorgen musste um sie. Harte Burschen waren das, nachts lagen die Temperaturen oben bei null Grad, aber sie rollten ihre Schlafsäcke in einem der Türme aus, tranken heißen Tee und legten sich zum Schlafen auf den Boden, als ob sie das alle Tage täten. Am nächsten Morgen setzte sich ein Baumfalke ganz nah vor sie auf einen Giebel am Turm. Die Japaner waren begeistert und fotografierten den Vogel von allen Seiten. Sie malten mit einem Stock Schriftzeichen in die Erde, Lai verstand, dass sie in ihrer Heimat Vogelkundler waren.
Wieder belud er die Schubkarre und warf die schweren Brocken gegen das Sieb. Auf der anderen Seite hatte sich schon ein schöner Hügel feinkrümeliger Erde gebildet. Noch eine Stunde, dann konnte er sie ausbringen und Furchen für die Samen ziehen.
Um diese Uhrzeit war seine Frau noch im Innenhof beschäftigt, reinigte den Backofen und bereitete die Mittagsmahlzeit zu. Demnächst käme sie heraus, um ihm beim Einbringen der Zwiebelsaat zu helfen, dann würden sie sich in den Hof setzen und Reis mit Gemüse essen, das war die gewohnte Reihenfolge. An jedem anderen Tag hätte Lai sich darauf gefreut, aber heute wäre es ihm lieber gewesen, die Frau bliebe im Haus. Bestimmt würde sie ihn nach dem Moped fragen, das seit gestern Abend nicht mehr im Schuppen stand, die Rede würde weiter auf den Abend kommen, auf ihren Bruder, auf das Mahjong-Spiel und bei jeder ihrer Fragen könnte er nichts anderes tun, als den Kopf hängen zu lassen.
Er ergriff die Schaufel und begann in großen Schwüngen die Erde auf dem Acker zu verteilen. Die abgetrockneten, helleren Krümel legten sich als feine Schicht über den dunkleren Grund. Der Schweiß rann ihm in die Augen, wieder legte er den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn.
FORTSETZUNG FOLGT