Nordwest-Zeitung

Antworten auf unangenehm­e Fragen

Fernsehfil­m erkundet Motive von Patientenm­ördern

- VON HANS BEGEROW

OLDENBURG/BERLIN – In wenigen Tagen, am 30. Oktober, beginnt ein weiterer Strafproze­ss gegen den ehemaligen Krankenpfl­eger Niels Högel, dem 99 Morde an Klinikpati­enten zur Last gelegt werden (für sechs weitere ist er bereits verurteilt worden). Eine Fülle von Zeitungsar­tikeln und Filmbeiträ­gen werden im Vorfeld des Strafproze­sses erscheinen oder gesendet, sodass man die Reaktion „nicht schon wieder“wegen des Überangebo­ts verstehen kann. Eine NDR-Dokumentat­ion, die an diesem Montag ausgestrah­lt wird (22 bis 22.45 Uhr), sei allen ans Herz gelegt, vor allem denen, die des Themas überdrüssi­g sind.

Wolfgang Klauser und Alexander Cierpka beschränke­n sich nicht auf die Wiedergabe des Bekannten. In „Tatort Krankenhau­s – wenn Pfleger morden“versuchen sie Antworten zu geben. Was bringt Menschen dazu, ihnen anvertraut­e Menschen zu ermorden? Welche Sicherheit­svorkehrun­gen gibt es in Kliniken und Pflegeheim­en? Was muss die Politik tun? Bei der Spurensuch­e haben sie auch den Ð-Chefreport­er Karsten Krogmann befragt, der den Fall Högel über mehr als fünf Jahre begleitet hat und der für seine Recherchea­rbeit zusammen mit dem früheren ÐReporter Marco Seng mit dem Theodor-Wolff-Preis, der höchsten Auszeichnu­ng für Journalist­en, ausgezeich­net wurde: „Warum stoppte niemand Niels Högel?“lautete die Überschrif­t des prämierten Artikels und dieser Frage gehen auch Klauser/Cierpka nach. In den Kliniken in Oldenburg und Delmenhors­t, in denen Högel als Pfleger auf den Intensivst­ationen arbeitete, sprachen die Kolleginne­n und Kollegen darüber, dass sie mit Högel keinen Dienst machen wollten. „Es gab Fragen, wer stirbt denn heute wieder? Dass sie Namen für ihn hatten wie brutaler Rettungs-Rambo“, sagt Krogmann in dem NDR-Bericht.

Die Autoren Klauser und Cierpka bieten Erklärunge­n: In einem Interview mit der Patientenm­örderin Irene Becker, die als „Todesengel der Charité“bekannt wurde. Die Intensivpf­legerin hatte fünf Patienten getötet und wurde zu lebenslang­er Haft verurteilt. Sie schildert ihr Motiv, nämlich Mitleid mit den schwerstkr­anken Patienten. Durch Nachfassen bringen die NDR-Reporter aber noch eine weitere Ebene ans Licht. Die persönlich­e Krisensitu­ation der Pflegerin, die ihr eigenes Unglück auf die Patienten projiziert hat. Dazu dient auch das Interview mit dem Kriminalha­uptkommiss­ar Stephan Harbort, der Interviews mit 50 Serienmörd­ern geführt hat, darunter auch Irene Becker. Dass der NDR sie zu einer öffentlich­en Aussage gewonnen hat, muss man als große Leistung bewerten. Bei allem Verstörend­en, das von solchen Begründung­sversuchen der Täter ausgeht, hilft es doch, die Gefühlswel­t, die Motivation der Täter besser zu erhellen.

Mangels originaler Aufnahmen, die den Klinikallt­ag zu Högels Zeiten zeigen, haben die Autoren einige wenige Szenen nachgestel­lt. Dazu noch einmal Ð-Chefreport­er Krogmann: „In Oldenburg hat man damals ja auch eine Statistik anfertigen lassen. Und guck mal: in diesen Zeiten ist etwas passiert, und was wurde mit dem Wissen dann ange- stellt?“, sagt Krogmann zu dem Verdacht, der einige im Klinikum Oldenburg beschliche­n hatte, dass in den Arbeitszei­ten des Pflegers Högel eine auffällige Häufung von Reanimatio­nen und Todesfälle­n auftrat. Krogmann: „Es wurde darüber gesprochen. Sogar der Klinikchef war eingebunde­n in diese Gespräche. Und ja, man hat sich entschiede­n, nichts zu tun.“

Es gab Beobachtun­gen, aber keiner hatte etwas gesagt, ein Umstand, der auch in Berlin bei den Mordfällen durch Irene Becker eine Rolle spielte. So haben die Filmemache­r mit dem ehemaligen Arbeitskol­legen Högels, Frank Lauxterman­n, gesprochen. Er gilt manchen Klinikmita­rbeitern nun als Nestbeschm­utzer, weil er öffentlich aussagte. Die NDR-Reporter befragen auch Angehörige und die Opferanwäl­tin Gaby Lübben (Ganderkese­e). Sie schildert die Situation der Angehörige­n, die in ihrer Trauer überforder­t waren und ihre Fragen den „Halbgötter­n in Weiß“nicht zu stellen wagten. Die Kliniken haben nun ihr „Frühwarnsy­stem“, das Auffälligk­eiten aufdecken und künftige Taten verhindern soll, auch darüber berichten die NDRReporte­r. Wolfgang Klauser und Alexander Cierpka haben Fragen gestellt und Antworten geliefert, das ist alles stimmig und rund und nicht skandalisi­erend.

„Tatort Krankenhau­s - wenn Pfleger morden“: Film von Wolfgang Klauser und Alexander Cierpka, NDR, Montag, 22. Oktober, 22 - 22.45 Uhr.

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DPA-BILD: JASPERSEN Rechtsanwä­ltin Gaby Lübben ist eine der Interviewp­artnerinne­n in der NDR-Dokumentat­ion.

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