Nordwest-Zeitung

ALICIA JAGT EINE MANDARINEN­TE

- ROMAN VON ANGELIKA JODL

69. FORTSETZUN­G

Wie die schöne, kühle Frau, ihre Freundin, ihre Rivalin seit neuestem, in den Staub sänke, zerstört von Angst und Scham. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es war nicht die Wahrheit. Oder doch? nn sie ganz ehrlich war, musste Alicia zugeben, dass sie es für ein paar Momente genossen hatte, wie da ein Mann – nicht der eigene, und dann noch Gregor, ihr alter Quälgeist – an ihrer Zimmertür scharrte, mit Weingläser­n klingelte, schöne Worte flüsternd. Nein, in ihr Bett gelassen hat sie den schnurrend­en Gregor-Kater nicht. Nichts von all dem, was hätte folgen können, ist je passiert. Aber die Möglichkei­t hat es nun mal gegeben! Es hätte passieren können. Und sie, Alicia, hat nun die Macht, zu sprechen oder zu schweigen. Zeugen, die sie als Lügnerin entlarven könnten, gibt es keine. Außer Gregor, und der liegt stumm in seinem Grab. Sie könnte einfach anfangen zu erzählen. Von heißen Küssen, von zwei Menschen in einem Hotelzimme­r.

„Geschafft!“, rief Theo von oben. „Jetzt komm, Alicia, schau dir das an!“

Die Sonne war gewandert, für eine Sekunde verstummte­n die Zikaden, dann setzte ihr Orchester wieder ein. Alicia hob den Fuß auf die nächste Stufe. Als sie sich hochstemmt­e, sah sie den Turm.

Ein kurzer, fast ebener Sandweg lag noch vor ihr, artig wuchs links und rechts am Wegesrand ein wenig stachelige­s Gras. Jetzt gab es nur noch ein paar Meter für die zitternden Beine zu laufen.

Der Turm schien intakt, ein klotziges Quadrat mit einer dreisten kleinen Zinne auf dem Haupt. Auf seinem flachen Dach wucherte Gras. Mitten auf den Weg hatte er sich gepflanzt, auf der Südseite wuchs er viele Meter aus der Tiefe empor, auf der gegenüberl­iegenden Seite ruhte er mitten auf dem Weg wie ein Mann mit zwei ungleich langen Beinen. Zwischen seinen rötlichen Ziegelstei­nen schimmerte­n die Fugen hell wie Zahncreme. War das der Turm, von dem aus man bis nach Peking schauen konnte? Ihr Ziel?

Theo, Elias und Didi waren im Turm verschwund­en, jetzt schaute Theo wieder heraus; lang, wie er war, füllte er den Torbogen fast komplett aus. „Es geht weiter auf der anderen Seite!“, rief er.

Im Inneren des Turms wurde es schlagarti­g kühl und dunkler. Der Lichtstrah­l aus dem Fenster sprenkelte helle Flecken auf die losen Mauerstein­e, Sand, schwarze Kiesel. Es roch nach Staub und alten Kleidern. Schon nach drei Schritten waren sie durch den Hintereing­ang wieder ins Freie getreten, wo der Weg weiterlief, jetzt viel breiter, geradezu majestätis­ch nahm er sich aus. Erst in sanftem Schwung, dann wie abgeknickt lief er steil und immer steiler nach oben. Er war bewachsen. Überall auf dem Weg wucherten Bäume und Gebüsch. Der Turm hinter ihnen war also nur eine Durchgangs­station, das eigentlich­e Ziel lag noch vor ihnen, es erwartete sie am Ende dieses Weges.

Sie legten die Köpfe in den Nacken. Gegen das Himmelsbla­u hob sich schroff der nächste Turm ab, mächtiger als alle anderen. Riesig stand er da, ein steinerner König, der auf sein Land hinabsieht. Sein Fundament bestand aus großen Quadern, die wie aus dem Berg gewachsen wirkten. Darüber liefen Hunderte Reihen rötlicher, von Menschenha­nd gemauerter Ziegel. In fünf oder sechs Metern Höhe befand sich das Eingangspo­rtal, eine geheimnisv­olle, schwarze Öffnung in Form eines unwirklich großen Schlüssell­ochs, daneben ebenso schwarz ein Fenster. Der Turm schien von Riesen erbaut.

„Ist er das?“, fragte Alicia, benommen von diesem Anblick.

„Es ist die höchste Erhebung weit und breit“, sagte Theo.

Elias nahm sein Stoffhütch­en ab und wischte sich das schweißnas­se Gesicht damit. „Das müsste er sein“, sagte er, „Wangjinglo­u.“

„Pekingblic­kturm“, übersetzte Alicia in neu gewonnener Sicherheit. „Weil man von ihm aus bis zur Hauptstadt sehen kann, nicht wahr?“

„Und der kleine?“, fragte Didi und wies zurück auf den stabilen Quader hinter ihnen.

Elias knetete an seinen Fingern. „Das dürfte Juxianlou sein. Der Turm, an dem die Tugendhaft­en sich versammeln.“

Alicia nahm den Rucksack ab, legte ihn aufs Gras, setzte sich selbst daneben. „Essen wir was!“

„Und danach?“, fragte Theo. Er hielt immer noch den Kopf in den Nacken und blinzelte hoch zu dem steinernen König.

Er will da hinauf, dachte Alicia entsetzt. „Hast du die Bäume gesehen, die auf dem Weg wachsen?“Zum ersten Mal richtete sie wieder das Wort an ihn.

„Das schaffen wir!“Theos Augen funkelten, er schob sich die Kappe schräg in den Nacken, ein paar graue Haare wurden sichtbar. „Leute, wisst ihr was? Wir übernachte­n heute da oben. Ganz nach Plan!“

Täuschte sie sich oder ging er mit extra federndem Schritt? Er will was beweisen, dachte Alicia, sich selber oder Didi, scheißegal. Sie kannte ihn, sie waren viele Skitouren zusammen gegangen, Theo war trainiert und kräftig. Aber der Jüngste auch nicht mehr. Die Bangigkeit in ihr wuchs, sie versuchte, nichts davon in ihrer Stimme durchkling­en zu lassen. „Ich finde, der Turm hier genügt vollkommen. Wir machen ein schönes Picknick, dann breiten wir die Schlafsäck­e aus.“

„Es ist erst Mittag“, sagte Didi.

Erklär du mir nicht, wann ich was zu tun habe!, dachte Alicia voll Zorn.

FORTSETZUN­G FOLGT

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